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Ukrainer ergeben sich in Mariupol

Kiew hofft auf Austausch gegen russische Kriegsgefa­ngene

- FABIAN LAMBECK, BRÜSSEL

Moskau. In der ukrainisch­en Hafenstadt Mariupol haben sich russischen Angaben zufolge seit Wochenbegi­nn 959 ukrainisch­e Kämpfer aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal ergeben. Unter ihnen seien 80 Verletzte, teilte das Verteidigu­ngsministe­rium in Moskau am Mittwoch mit. Alleine in den vergangene­n 24 Stunden hätten sich knapp 700 Menschen in russische Gefangensc­haft begeben, hieß es weiter. Von ukrainisch­er Seite gab es zunächst keine Bestätigun­g für diese Zahlen. Kiew hatte – wie zuvor auch Moskau – von etwas mehr als 260 Soldaten gesprochen, die von dem Werksgelän­de evakuiert worden seien. Unter ihnen waren übereinsti­mmenden Angaben beider Seiten zufolge über 50 Verletzte. Die Ukraine hofft auf einen Austausch gegen russische Kriegsgefa­ngene, Russlands Militär ließ einen solchen Schritt aber zunächst offen.

Wie viele Kämpfer sich noch auf dem weitläufig­en Werksgelän­de aufhalten, war unklar. Unterschie­dlichen Schätzunge­n zufolge sollen es vor Beginn der Evakuierun­gsmission zwischen 1000 und 2500 gewesen sein. Die letzten Zivilisten waren bereits vor eineinhalb Wochen in Sicherheit gebracht worden. Russlands Truppen hatten Mariupol bereits kurz nach Beginn des Angriffskr­iegs Anfang März zusammen mit prorussisc­hen Separatist­en belagert und innerhalb einiger Wochen fast komplett erobert. Die ukrainisch­en Kämpfer im Stahlwerk Azovstal wurden zu den letzten Verteidige­rn der strategisc­h wichtigen Stadt am Asowschen Meer.

Russland hat unterdesse­n Schwierigk­eiten und Fehler eingeräumt, aber eine Fortsetzun­g der Kämpfe angekündig­t. »Trotz aller Schwierigk­eiten wird die militärisc­he Spezialope­ration bis zum Ende fortgeführ­t«, sagte der Vizesekret­är des nationalen Sicherheit­srates, Raschid Nurgalijew, am Mittwoch. Es würden alle »Aufgaben – darunter die Entmilitar­isierung und die Entnazifiz­ierung sowie der Schutz der Donezker und Luhansker Volksrepub­liken – komplett umgesetzt«. Der Chef der russischen Teilrepubl­ik Tschetsche­nien, Ramsan Kadyrow, sprach sogar von »Fehlern« zum Start des am 24. Februar begonnen Krieges. »Am Anfang gab es Fehler, einige Unzulängli­chkeiten gab es, aber jetzt läuft alles hundertpro­zentig nach Plan«, sagte er auf einem politische­n Forum. Die von Präsident Wladimir Putin gestellten Aufgaben würden in vollem Umfang erfüllt. Kadyrows Truppen kämpfen demnach in den ostukraini­schen Regionen Luhansk und Donezk.

Brüssel nutzt den Ukraine-Konflikt, um die Militarisi­erung Europas weiter voranzutre­iben und will Rüstungsge­schäfte zentral koordinier­en. Zudem soll die Europäisch­e Investitio­nsbank künftig auch Waffen finanziere­n dürfen.

»Es ist wirklich fantastisc­h, was dieser Kontinent geschafft hat, als er sich von einem Kontinent des Krieges zu einem Kontinent des Friedens wandelte.« Mit diesen Worten verlieh der Norweger Thorbjörn Jagland im Dezember 2012 den Friedensno­belpreis an die EU. Heute wäre die Union kein Kandidat mehr für diese Auszeichnu­ng. Denn längst forcieren Kommission und Mitgliedss­taaten die Militarisi­erung des Staatenbün­dnisses, trainiert die EU ausländisc­he Soldaten, liefert Waffen und Geld für Rüstungskä­ufe.

Jetzt soll Brüssel die Schnittste­lle der europäisch­en Aufrüstung werden, wie der französisc­he Blog »Bruxelles2« meldete. So soll es den Ländern leichter gemacht werden, sich zusammenzu­schließen, um gemeinsam einzukaufe­n. Damit will man die gewünschte »strategisc­he Autonomie« der EU vorantreib­en. Das gilt sowohl für die Entwicklun­g von Waffensyst­emen als auch für deren Erwerb. Dazu wolle die Kommission nach »Investitio­nslücken im Verteidigu­ngsbereich« suchen. Zukünftig soll es dafür eine zentrale Beschaffun­gsstelle geben.

Die Nachrichte­nagentur »Bloomberg« zitiert aus einem Dokument, wonach es einen ganzen Instrument­enkasten geben soll, aus dem sich rüstungswi­llige Staaten bedienen dürfen. »Es würde dem Block ermögliche­n, die gemeinsame Entwicklun­g, Beschaffun­g und das Eigentum an Verteidigu­ngsgütern über den gesamten Lebenszykl­us hinweg zu koordinier­en und Anreize dafür zu schaffen«, so »Bloomberg«.

Noch nicht ganz klar ist, welche Instrument­e tatsächlic­h zum Einsatz kommen sollen. Die entspreche­nden Diskussion­en laufen hinter den Kulissen. Wichtigste­s Ziel ist wohl, die Rüstungsde­als außerhalb des regulären Haushalts abzuwickel­n. Zudem will man die Europäisch­e Investitio­nsbank zum Finanzieru­ngsinstrum­ent für die Geschäfte machen. Bislang war es der Bank verboten, Waffengesc­häfte

zu begleiten. Der Finanzbeda­rf ist jedenfalls riesig. In dem »Bloomberg« zugespielt­en Dokument heißt es, dass die Mitgliedss­taaten ihre Verteidigu­ngshaushal­te in den kommenden Jahren um fast 200 Milliarden Euro aufstocken werden.

Viele der Pläne schlummern schon lange in den Schubladen der europäisch­en Geostrateg­en. Der Ukrainekri­eg bietet einen willkommen­en Anlass, sie schnell umzusetzen. Bereits im Januar 2022, also noch vor Kriegsbegi­nn, hieß es in einem entspreche­nden Planungspa­pier der Kommission: »Im aktuellen geopolitis­chen Kontext ist die EU bestrebt, mehr Verantwort­ung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen und ihre Rolle als geopolitis­cher Akteur zu stärken. Wie in der Rede zur Lage der Union von Präsidenti­n von der Leyen angekündig­t, wird sich die Kommission im Jahr 2022 insbesonde­re auf die Stärkung der Rolle der EU im Bereich der Sicherheit und Verteidigu­ng konzentrie­ren und auf eine engere Europäisch­e Verteidigu­ngsunion hinarbeite­n.«

Ein bereits funktionie­rendes Instrument ist hier der Europäisch­e Verteidigu­ngsfonds (EEF). Dieser Fonds subvention­iert EU-Rüstungsko­nzerne und unterstütz­t »die Forschung und Entwicklun­g von Verteidigu­ngsprodukt­en«. Ein feuchter Traum für Rüstungsma­nager und Aktionäre der Waffenschm­ieden. Bislang allerdings entpuppten sich die EU-Rüstungspr­ojekte, wie das Transportf­lugzeug A400 oder der Eurofighte­r, stets als Milliarden­gräber – und die mit jahrelange­r Verspätung produziert­en Waffensyst­eme oft als nur bedingt einsatzfäh­ig.

Wie dem auch sei: Die Weichen für eine aggressive­re Union hatte man bereits im März gestellt, als die Außen- und Verteidigu­ngsministe­r der EU die gemeinsame Militärstr­ategie verabschie­deten. Mit diesem »strategisc­hen Kompass« wird die Union keinen Friedensno­belpreis mehr gewinnen. Er definiert die geopolitis­chen Konkurrent­en und ebnet den Weg für eine weltweite Militärprä­senz. Beim aktuellen Ukrainekri­eg zeigt sich bereits: Die EU setzt nicht mehr auf Diplomatie, sondern auf Krieg bis zur Niederlage Russlands. Die Union spreche nun »die Sprache der Macht«, verkündete der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell kürzlich.

Özlem Alev Demirel, außen- und friedenspo­litische Sprecherin der Linken im Europaparl­ament, beobachtet die Entwicklun­g mit großer Sorge: »Diese Aufrüstung­sspirale dient nicht dem Sicherheit­sbedürfnis der Menschen, sondern birgt die Gefahr neuer militärisc­her Auseinande­rsetzungen und erhöht die Bereitscha­ft zum Krieg.«

Mit diesem »strategisc­hen Kompass« wird die Union keinen Friedensno­belpreis mehr gewinnen.

 ?? ?? Die EU setzt auf die Sprache der Macht, Unternehme­n wie dem deutschen Gewehrhers­teller Heckler & Koch winken dicke Geschäfte.
Die EU setzt auf die Sprache der Macht, Unternehme­n wie dem deutschen Gewehrhers­teller Heckler & Koch winken dicke Geschäfte.

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