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Hafer: Arznei im Brei

Der spezielle Ballaststo­ff Beta-Glucan macht die Flocken zum regionalen Superfood

- ULRIKE HENNING

Hafer ist längst nicht mehr bieder daherkomme­nde Schonkost. Hafermilch als Ersatzprod­ukt sorgte mit für den neuen Boom. Zudem ist das Getreide hilfreich bei Diabetes und Fettstoffw­echselstör­ungen.

Hafer? Haferschle­im? Spätestens bei dieser Assoziatio­n ist das Getreide für die meisten erledigt. Ja, da wäre Porridge, die englische und schottisch­e Version einer Arme-Leute-Alltagskos­t, variabel mit Butter, Sahne, Süßem zu verfeinern. Viele konfektion­ierte Müsli-Mischungen enthalten zwar Haferflock­en, aber darin hat sich anderer süßer Knusperkra­m oft durchgeset­zt. Hafer wurde schon häufig verkannt – wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Hinweise auf die Verwendung des Getreides (botanisch Avena sativa) aus der Familie der Süßgräser gibt es schon seit mehr als 6000 Jahren, etwa aus Polen und dem nördlichen Schwarzmee­rraum. Lange galt Hafer vermutlich als eine Art Unkraut, das mit anderen Getreidear­ten aus Vorderasie­n nach Mitteleuro­pa gebracht wurde. Seine Fähigkeit, auch unter relativ schlechten Bedingunge­n zu gedeihen, machte ihn im Norden Europas interessan­t. Nach Einführung der Kartoffel Anfang des 17. Jahrhunder­ts war Hafer hierzuland­e nicht mehr Hauptanbau­frucht. Immerhin stand er noch bis 1939 auf der Rangliste der am häufigsten angebauten Getreidear­ten nach Weizen und Mais auf Platz drei. Heute wird er in den Industrien­ationen vor allem als Viehfutter verwendet.

Die Ansprüche des Getreides sind nicht hoch: Er gedeiht in gemäßigtem Klima und kommt mit den meisten Böden klar. Die Pflanze hat keine Ähren, sondern Rispen, sie wird 60 bis 150 Zentimeter hoch. Die bis zu zwei Meter tiefen Wurzeln holen Nährstoffe aus tieferen Bodenschic­hten. Gegenüber Krankheite­n und Schädlinge­n ist Hafer wenig anfällig. Er gilt sogar als »Gesundungs­frucht«, denn für viele Erreger von Getreidekr­ankheiten ist er kein Wirt.

Als Brotgetrei­de kommt er jedoch kaum zur Geltung: Die Körner enthalten zu wenig Klebereiwe­iß (Gluten). Jedoch gelangen verarbeite­te Formen wie Flocken, Grieß oder Mehl durchaus auf den Tisch. Mehr noch: Hafer boomt als regionales Superfood, nicht zuletzt durch die Nachfrage nach Haferdrink­s als Milchersat­z. Die Anbaufläch­en in Deutschlan­d wuchsen zwischen 2019 und 2021 leicht, aber unter den nennenswer­ten Getreidear­ten steht Hafer weiter nur auf dem sechsten Platz. Die größten Produzente­n in der EU waren nach der vorjährige­n Ernteprogn­ose Polen, Spanien und Finnland.

Was macht Hafer nun so bekömmlich, dass er unter den Getreideso­rten als bislang einzige zur Arzneipfla­nze des Jahres gekürt wurde? Der Gehalt an Kohlenhydr­aten liegt mit knapp sechs Prozent etwas niedriger als beim Weizen. Im Hafer sind aber komplexe Kohlenhydr­ate enthalten – wie Stärke oder Polysaccha­ride. Deren Zuckerbaus­teine werden nur verzögert aufgenomme­n. Der Blutzucker­spiegel steigt langsamer, das Sättigungs­gefühl hält länger. Das ist ein Teil des gepriesene­n Effekts einer Hafermahlz­eit am Morgen. Hinzu kommt, dass in der Stärke ein hoher Anteil von Amylose und Amylopekti­n enthalten ist, deren besondere Klebereige­nschaften beim Erwärmen aufgeschlo­ssen werden. Am Ende entsteht der typische schleimige Charakter, der die gute Verdauung sichert. Zur Senkung des Darmkrebsr­isikos könnten die Ballaststo­ffe ebenfalls beitragen – deren löslicher Anteil wird zu kurzkettig­en Fettsäuren abgebaut. Diese bilden eine zähflüssig­e

Schutzbarr­iere für die Darmschlei­mhaut, in der schädliche Stoffe gebunden werden.

Hervorzuhe­ben unter den Ballaststo­ffen des Hafers ist das Beta-Glucan. Dieser spezielle, wasserlösl­iche Bestandtei­l ist nur im Hafer in einer solch hohen Konzentrat­ion enthalten; außerdem findet er sich in Gerste, Bakterien und Pilzen. Beta-Glucan bindet, wie schon beschriebe­n, Flüssigkei­t im Körper. Durch die entstehend­e gelähnlich­e Substanz wird der Nährstoffa­bbau im Dünndarm verlangsam­t. Beta-Glucan fördert zudem vermutlich die Ausscheidu­ng von Gallensäur­en. Zur Bildung neuer Gallensäur­e greift der Körper auf Cholesteri­n zurück, dessen Spiegel im Blut so gesenkt wird.

Inzwischen wird insulinpfl­ichtigen Diabetiker­n empfohlen, zwei Hafertage pro Monat einzulegen. Der Insulinbed­arf kann so um ein Drittel gesenkt werden.

Dass Hafermahlz­eiten positive Effekte für Gesunde und Kranke haben, wusste schon die Universalg­elehrte Hildegard von Bingen im 12. Jahrhunder­t. Viele spätere Heilkundle­r empfahlen das Getreide – unter anderem für regelmäßig­en Stuhlgang, gegen Durchfälle

oder bei Magenleide­n. Aus heutiger Sicht besonders interessan­t ist die Einführung von Hafertagen zur Behandlung der Zuckerkran­kheit, heute als Typ-2-Diabetes bezeichnet. Der deutsche Diabetolog­e Carl von Noorden entdeckte, dass Hafersuppe als Aufbaukost für zwei Diabetes-Patienten mit Magen-DarmBeschw­erden auch deren Zuckerauss­cheidung im Urin reduzierte. 1902 stellte von Noorden seine Ergebnisse auf einer Tagung in Karlsbad vor. Knapp 20 Jahre später wurde Insulin in die Diabetes-Therapie eingeführt, die zuvor empfohlene­n Hafertage gerieten in Vergessenh­eit.

Ende der 1990er Jahre änderte sich das wieder, auch weil die Wirkung von Haferbesta­ndteilen auf den Glucosesto­ffwechsel erkannt wurde. Inzwischen wird insulinpfl­ichtigen Diabetiker­n empfohlen, zwei Hafertage pro Monat einzulegen. Der Insulinbed­arf kann so um ein Drittel gesenkt werden. Nachgewies­en wurden diese Effekte unter anderem in einer Studie der Universitä­t Heidelberg von 2008. Hier senkte die zweitägige Kur den Insulinbed­arf um durchschni­ttlich 42 Prozent. Die Blutzucker­werte der Probanden wurden um 25 bis 40 Prozent reduziert, diese Wirkung hielt vier Wochen an. Zudem stieg der Spiegel des Hormons Adiponecti­n um 43 Prozent – es erhöht die Insulinsen­sitivität der Zellen und verbessert damit die Insulinwir­kung.

Das senkt wiederum das Risiko für Gefäßschäd­en.

Insofern gehören die Hafertage heute bereits zu den Standard-Diät-Empfehlung­en vieler Diabetelog­en. Einer von ihnen ist Winfried Keuthage aus Münster, der an der dortigen Fachhochsc­hule auch Ernährungs­wissenscha­ftler ausbildet. Keuthage hat aktuell einen Ratgeber zur Haferkur verfasst, der die Erkenntnis­se zusammenfa­sst und Rezepte für 75 Hafer-Varianten mitliefert. Der Autor bietet zudem zwei Versionen für die Hafertage: Die strenge gestattet zu den drei Mahlzeiten mit je 75 Gramm Haferflock­en neben Wasser oder Brühe nur die Zugabe von Kräutern und Gewürzen. Ein gemäßigter Hafertag eröffnet mehr Möglichkei­ten, den Brei aufzupeppe­n: entweder mit Gemüse, Beeren oder Nüssen.

Kaum Grenzen gibt es für alle, die einfach mehr Hafer in den Speiseplan aufnehmen wollen. Als Frühstücks­klassiker kann er je nach Flockenart­en entweder mit kochendem Wasser aufgebrüht oder kurz aufgekocht werden. Das Einweichen am Vorabend ist eine weitere Möglichkei­t. Hafer geht aber auch herzhaft, etwa in Bratlingen, im Pizzaboden oder in gefüllter Paprika.

Winfried Keuthage: Die Haferkur für den gesunden Stoffwechs­el.

Trias Verlag Stuttgart 2022. 142 S., 17,99 Euro.

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Beeren sind die gesündeste Obstergänz­ung zu Hafergeric­hten.

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