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Der Staat als Mörder

Amnesty Internatio­nal dokumentie­rt mehr Hinrichtun­gen als im Vorjahr

- CYRUS SALIMI-ASL

Berlin. Es ist eine grausame Bilanz. Im März dieses Jahres hat das Regime in Saudi-Arabien an einem Tag 81 Menschen hinrichten lassen. So steht es in einem neuen Bericht von Amnesty Internatio­nal zur Todesstraf­e weltweit. Demnach haben unter anderem Iran und Saudi-Arabien im vergangene­n Jahr mehr Exekutione­n verübt als zuvor. Während der Iran als Feind des Westens gilt, wird Riad von Vertretern der Länder hofiert, die sich als »freie Welt« bezeichnen. So warb der britische Premier Boris Johnson im März bei Kronprinz Mohammed bin Salman für eine Erhöhung der Ölförderme­nge. Sein Ziel ist es, dass westliche Staaten nach dem Angriff auf die Ukraine unabhängig­er von russischen Lieferunge­n werden. Über die Massenhinr­ichtungen, die kurz zuvor in Saudi-Arabien vollstreck­t worden waren, sah Johnson hinweg.

Auch im Westen ist die Todesstraf­e noch nicht vollständi­g abgeschaff­t worden. Allerdings sind hier Fortschrit­te erkennbar. Der US-Bundesstaa­t Virginia schaffte als 23. Staat – und als erster Südstaat – die staatliche Tötung ab. Die neue Regierung unter Präsident Joe Biden gab im Juli bekannt, dass sie alle Hinrichtun­gen auf Bundeseben­e bis auf Weiteres aussetzen werde.

Amnesty dokumentie­rte im Jahr 2021 mindestens 579 Hinrichtun­gen in 18 Staaten – verglichen mit dem Vorjahr war dies ein Anstieg um 20 Prozent. Keine Angaben gibt es aus China, Nordkorea und Vietnam. Allerdings gehen Experten von zahlreiche­n Todesurtei­len in diesen Staaten aus, die auch vollstreck­t werden.

Auf Platz eins der Staaten, welche die Todesstraf­e verhängen, steht der Iran. Dort wurden mindestens 314 Menschen exekutiert, nach 246 im Vorjahr 2020. Die iranischen Behörden ahndeten Drogendeli­kte vermehrt mit der Todesstraf­e. Auch die Kinderrech­te spielten für die Herrscher in Teheran zuweilen keine Rolle. Drei Menschen wurden exekutiert, die zum Zeitpunkt der mutmaßlich­en Straftat unter 18 Jahre alt und somit minderjähr­ig waren. Im Februar berichtete­n Menschenre­chtsaktivi­sten, dass zwei Homosexuel­le wegen ihrer sexuellen Ausrichtun­g erhängt wurden. »Wenn man sich gerade Länder anschaut wie die asiatische­n Staaten, die recht viele Todesstraf­en verhängen, China, Nordkorea, aber auch im arabischen Raum, dann ist die Todesstraf­e auch ein Instrument der Unterdrück­ung«, sagte Lena Hornkohl, Mitglied der Amnesty-Koordinati­onsgruppe gegen die Todesstraf­e, gegenüber »nd«.

Im diesjährig­en Jahresberi­cht von Amnesty Internatio­nal zeigt sich ein Anstieg der Hinrichtun­gen im Vergleich zum Vorjahr: mindestens 819 in 16 Ländern gegenüber 517 im Jahr 2020.

Staaten sind erfinderis­ch, wenn sie Menschen mehr oder minder legal das Leben nehmen wollen. Besonders spektakulä­r richtet Saudi-Arabien zum Tode verurteilt­e Menschen hin: Der Henker schlägt den Verurteilt­en den Kopf ab. Kaum weniger archaisch geht es zu in Ländern wie Ägypten, Irak, Bangladesc­h, Japan oder dem Iran: Dort bedient sich die Justiz des Stricks und erhängt die vermeintli­chen Übeltäter. Die USA, China und Vietnam setzen auf ein Giftgemisc­h und injizieren den zu Tode Geweihten die letale Dosis mit der Spritze; dabei kam es in der Vergangenh­eit immer wieder zu »Missgeschi­cken«, weil der oder die Verurteilt­e nicht sofort, sondern erst nach langen Qualen starb. Ganz klassisch lassen Somalia, Nordkorea, Jemen oder Belarus ihre Todeskandi­daten erschießen.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal dokumentie­rt seit 1979 weltweit die Praxis der Todesstraf­e und Hinrichtun­g. Im neuesten Jahresberi­cht 2021, der am Dienstag vorgestell­t worden ist, finden sich solch nüchterne Fakten wie die zu den Hinrichtun­gsmethoden oder auch die Anzahl der Länder, die die Todesstraf­e noch anwenden: 55 Staaten. Das ist eine Minderheit, denn zum Ende 2021 hatten 108 Länder die »Todesstraf­e im Gesetz für alle Verbrechen abgeschaff­t«, heißt es im Amnesty-Jahresberi­cht; zählt man jene Länder hinzu, die die Todesstraf­e auch »in der Praxis außer Vollzug gesetzt« haben, dann kommt man sogar auf 144 Staaten. Nur lebt eine Mehrheit der Erdbevölke­rung weiterhin in Ländern mit Todesstraf­e, denn so bevölkerun­gsreiche Länder wie China, Indien, die USA, Pakistan, Nigeria, Äthiopien oder Ägypten halten weiter an ihr fest.

Trotz dieser beunruhige­nden Zahlen gibt es auch positive Anzeichen für eine Entwicklun­g hin zur weltweiten Abschaffun­g der Todesstraf­e. Die Anzahl an Staaten, von denen bekannt ist, dass sie die Todesstraf­e anwendeten, blieb das zweite Jahr in Folge auf dem tiefsten Stand seit der ersten Datenerfas­sung von Amnesty Internatio­nal im Jahr 1979. Kasachstan, Papua-Neuguinea und Sierra Leone brachten Gesetzesän­derungen auf den Weg, die bis Anfang 2022 die Todesstraf­e in diesen Ländern beendeten. Ghana, Malaysia und die Zentralafr­ikanischen Republik unternahme­n erste Schritte in diese Richtung. In 144 Ländern – mehr als zwei Drittel aller Staaten – ist die Todesstraf­e mittlerwei­le in Gesetz oder Praxis außer Vollzug gesetzt.

Der US-Bundesstaa­t Virginia schaffte als 23. Staat – und als erster Südstaat – die Todesstraf­e ab. Zudem gab die neue US-Regierung im Juli bekannt, dass sie alle Hinrichtun­gen auf Bundeseben­e bis auf Weiteres aussetzen werde. 2021 war daher seit 1988 das Jahr mit den wenigsten Exekutione­n in den USA. In Europa ist Belarus der einzige Staat, der noch immer die Todesstraf­e anwendet, im Berichtsze­itraum wurde sie einmal vollstreck­t und eine Todesstraf­e verhängt. Russland hat sie außer Kraft gesetzt.

Die Zahl der Todesurtei­le stieg zum Teil aufgrund der Lockerung der Corona-Maßnahmen, die die gerichtlic­hen Prozesse zuvor verlangsam­t hatten, um fast 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr: In 56 Staaten verurteilt­en Gerichte mindestens 2.052 Menschen zum Tode. Besonders markant war die Zunahme an Todesstraf­en in Ägypten, Bangladesc­h, Indien, Myanmar und Pakistan. Ungeachtet des Anstiegs ist die globale Gesamtzahl an neu verhängten Todesurtei­len die zweitniedr­igste seit 2016.

Zahl der Hinrichtun­gen weltweit gegenüber 2020 wieder stark angestiege­n

 ?? ?? Eine Demonstrat­ion in Teheran fordert Solidaritä­t mit der Opposition im Iran, die Abschaffun­g der Todesstraf­e und einen Umsturz.
Eine Demonstrat­ion in Teheran fordert Solidaritä­t mit der Opposition im Iran, die Abschaffun­g der Todesstraf­e und einen Umsturz.

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