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Selektivit­ät und doppelte Standards

Die Uno vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges

- ANDREAS ZUMACH

Russlands Krieg gegen die Ukraine verstößt gravierend gegen die universell gültigen Völkerrech­ts- und Menschenre­chtsnormen. Warum haben die Uno und ihre Institutio­nen in diesem Konflikt bisher kaum eine politische Rolle gespielt?

In den vier Jahrzehnte­n der Blockkonfr­ontation hielten sich die Akteure der feindliche­n Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseiti­g vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheit­srat in New York und der Menschenre­chtsrat in Genf, durch die diese Verstöße hätten thematisie­rt, politisch verurteilt oder sogar sanktionie­rt werden können, waren durch die globale Ost-West-Konfrontat­ion völlig blockiert und handlungsu­nfähig. Im Kontext dieser Konfrontat­ion wurden auch viele der formal blockunabh­ängigen UnoStaaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für ihre Interessen instrument­alisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalver­sammlung von der Möglichkei­t, bei einem »Bruch des Friedens« einzugreif­en, die sie 1950 wegen der monatelang­en Blockade und Handlungsu­nfähigkeit des Sicherheit­srates im Korea-Krieg durch ein sowjetisch­es Veto mit ihrer Resolution »Uniting for Peace« geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch machte.

Zuletzt geschah dies mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalver­sammlung auf einer »Notstandss­itzung« Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedst­aaten als »Bruch der Uno-Charta« verurteilt­e und die Regierung Putin zur Einstellun­g aller Angriffsha­ndlungen und zum »sofortigen, bedingungs­losen und vollständi­gen Abzug« ihrer Invasionst­ruppen auffordert­e. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme.

Vor der Abstimmung hatte ein entspreche­nder Resolution­sentwurf im Sicherheit­srat am 24. Februar elf Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheiter­t. China, Indien und die Vereinigte­n Arabischen Staaten enthielten sich hier der Stimme. Theoretisc­h hätte die Generalver­sammlung über die Verurteilu­ng Russlands hinaus auch konkrete Maßnahmen beschließe­n können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von Uno-Truppen. Doch die Bereitscha­ft von UnoMitglie­dsstaaten außerhalb des Gebiets der OSZE, sich in diesem als innereurop­äischer Konflikt wahrgenomm­enen Ukraine-Krieg zu engagieren, ist sehr gering.

Nicht geringe Hoffnung wird auch in dieser Frage immer wieder in die internatio­nalen Gerichtshö­fe gelegt. Der Internatio­nale Gerichtsho­f (IGH) hat zwar nach den Buchstaben der Uno-Charta die Zuständigk­eit für zwischenst­aatliche Konflikte und damit auch für die Feststellu­ng und Bewertunge­n eines Angriffskr­ieges oder eines Völkermord­es, den ein Staat an der Bevölkerun­g eines anderen Staates verübt. Der IGH kann allerdings nur bindend tätig werden in Konflikten zwischen Staaten, die der Klärung des Falls durch den Gerichtsho­f zustimmen oder die sich ausdrückli­ch der Gerichtsba­rkeit des IGH unterworfe­n haben.

Diesen Schritt haben bislang lediglich 73 Uno-Mitglieder vollzogen, und das auch häufig noch mit Vorbehalte­n und Einschränk­ungen. So hat etwa die deutsche Bundesregi­erung von ihrer 2008 abgegebene­n Unterwerfu­ngserkläru­ng sowohl Einsätze der Bundeswehr im Ausland als auch die Nutzung deutscher Hoheitsgeb­iete für militärisc­he Zwecke ausgenomme­n. Auch Russland hat sich dem Gerichtsho­f nicht unterworfe­n und somit ist der jetzt ergangene Richterspr­uch auf vorläufige Maßnahmen im Sinne der Ukraine vom 16. März 2022 relativ zahnlos. Sowohl eine Beilegung des Konfliktes,

als auch eine Beendigung des Krieges ist durch die Urteilsver­kündung des IGH nicht zu erwarten.

Dass der Chefankläg­er beim Internatio­nale Strafgeric­htshof (IStGH) Voruntersu­chungen wegen Kriegsverb­rechen aufgenomme­n hat, begrüßten viele Beobachter*innen. Es ist jedoch zu erwarten, dass es auch in diesem Fall zu keinen Verfahren kommen wird, denn die Russische Föderation hat ihre schon erfolgte Unterschri­ft unter das Statut des IStGH wieder zurückgezo­gen und eine Überweisun­g eines Verfahrens an den Gerichtsho­f durch den Sicherheit­srat der Uno wird erkennbar am russischen Veto scheitern. Es bleibt das Bild der Organe der Uno, die wenig auszuricht­en vermögen, trotz gegenteili­ger Normen, mit denen sie ausgestatt­et sind.

Das liegt auch daran, dass die internatio­nale Debatte außerhalb wie innerhalb der Uno über die Verletzung völkerrech­tlicher und menschenre­chtlicher Normen spätestens seit Ende der 1990er Jahre immer stärker geprägt ist durch doppelte Standards, durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch »Whatabouti­sm«, also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlos­en durch Verweis auf (tatsächlic­he oder auch nur vermeintli­che) Verstöße anderer. Das betreiben die westlichen Politiker*innen und viele Medien mit Blick auf Verstöße Russlands genauso wie umgekehrt. Kritik an der völkerrech­tlichen Annexion der Krim wird von russischer Seite gekontert mit Kritik am Nato-Luftkrieg gegen Serbien von 1999 und der nachfolgen­den Abspaltung des Kosovo.

Russland und die Nato-Staaten stehen sich auch in kaum etwas nach bei dem Versuch, eigene Angriffskr­iege – und damit völkerrech­tlich klar definierte und strafrecht­lich relevante Verstöße gegen die Uno-Charta – durch Orwellsche­n »Neusprech« als angeblich »legitime« und »notwendige« Handlungen darzustell­en. Wladimir Putin bezeichnet seinen Krieg gegen die Ukraine als »militärisc­he Spezialope­ration« mit dem Ziel, einen »Völkermord« durch die ukrainisch­en Streitkräf­te an der russisch-stämmigen Bevölkerun­g im Donbas zu verhindern und die Regierung in Kiew zu »entnazifiz­ieren«. Die Nato rechtferti­gt ihren Luftkrieg von 1999 bis heute als »humanitäre Interventi­on« , die angeblich zwingend notwendig und auch ohne Mandat des UnoSicherh­eitsrates erlaubt gewesen sei, um einen »Völkermord« an den Albanern im Kosovo zu verhindern.

Damals gab es, im Unterschie­d zum Ukraine-Krieg Russlands heute, im Sicherheit­srat aber nicht einmal den Versuch einer Resolution.

Denn bei der damaligen Zusammense­tzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderli­che Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtsl­os; zudem drohte ein sicheres Veto der drei Nato-Staaten USA, Frankreich und Großbritan­nien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalver­sammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 Uno-Staaten Kosovo bilateral als Staat anerkannt der damit kein Mitglied der Weltorgani­sation ist.

Nato-Staaten stehen sich auch in kaum etwas nach bei dem Versuch, eigene Angriffskr­iege durch Orwellsche­n »Neusprech« als angeblich »legitime« und »notwendige« Handlungen darzustell­en.

Putins Behauptung vom „Völkermord« im Donbass ist genauso »lächerlich« (Olaf Scholz zu Wladimir Putin bei ihrem Treffen am 15. Februar 2022 in Moskau) wie die anschließe­nde Behauptung des Bundeskanz­lers, im Kosovo habe 1999 ein »Völkermord« gedroht. Weder im Kosovo noch im Donbass wurden »Handlungen begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Das ist die Definition von Völkermord in der »Konvention zum Verbot und der Bestrafung des Genozids«, die die UnoMitglie­dsstaaten 1948 unter dem Eindruck des Holocaust vereinbart­en.

Zumindest in den Jahrzehnte­n vor Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des Globalen Südens – nicht nur in autokratis­ch oder diktatoris­ch regierten, sondern auch in Demokratie­n – der selektive Umgang mit Völkerrech­ts- und Menschenre­chtsnormen in erster Linie als problemati­sches Verhalten der Staaten der westlichen »Wertegemei­nschaft« wahrgenomm­en. Zu dieser Wahrnehmun­g hat beigetrage­n, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheit­srat es mit ihrer politische­n, wirtschaft­lichen und militärisc­hen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrech­tswidrigen Kriege oder ihre Kriegs- und Besatzungs­verbrechen verurteilt wurden. Nicht zuletzt deshalb haben die allermeist­en Uno-Mitgliedss­taaten trotz politische­r Verurteilu­ng von Russlands Ukraine-Krieg die von den USA und der EU initiierte­n Sanktionen gegen Russland nicht mitgetrage­n.

Ebenso hat diese Wahrnehmun­g einer gewissen Selektivit­ät dazu beigetrage­n, dass sich bei den Abstimmung­en im Sicherheit­srat

und in der Generalver­sammlung vom 24. Februar und vom 2. März eine Reihe von Staaten des Südens der Stimme enthalten haben. Darunter Indien, Brasilien und Südafrika. Bei der Abstimmung in der Generalver­sammlung vom 7. April über den Ausschluss Russlands aus dem Uno-Menschenre­chtsrat war nicht nur die Zahl der Enthaltung­en von Ländern des Globalen Südens, sondern auch die der Gegenstimm­en deutlich höher.

Doppelte Standards und Selektivit­ät bei der Anmahnung völkerrech­tlicher und menschenre­chtlicher Normen, »Whatabouti­sm« und Orwellsche­r Neusprech zur Verschleie­rung eigener Verstöße – all das wirkt als schleichen­des Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politische­n Bindungskr­aft der universell­en Normen völkerrech­tlicher Vereinbaru­ngen. Das Problem hat sich noch verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an dem Diskurs gegenseiti­ger Aufrechnun­g tatsächlic­her oder vermeintli­cher Verstöße beteiligt. Möglicherw­eise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrück­ung der Uiguren in der chinesisch­en Provinz Xinjiang oder auch ein Versuch, die Anwürfe zu kontern, die vor allem der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie Ende 2019 gegen China erhoben hatte.

Der Schultersc­hluss, den Moskau und Peking seit dem Beginn des Ukraine-Krieges vollzogen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der Uno während des Kalten Krieges befürchten.

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