nd.DerTag

Stuttgart ist die Zukunft

- NICOLAS ŠUSTR

Digitale Signaltech­nik soll für mehr Züge auf den Gleisen sorgen

Schon jetzt gelten die Bahnstreck­en zum Berliner Hauptbahnh­of als überlastet. Ohne neue Signaltech­nik im Herzen des Eisenbahnk­notens werden zusätzlich­e Züge am Stadtrand enden müssen.

Das Bahnnetz der Region um Stuttgart wird in den nächsten Jahren zum modernsten der Republik aufgerüste­t. In bisher in Deutschlan­d nicht gekannter Konsequenz wird die herkömmlic­he Signaltech­nik auf knapp 450 Streckenki­lometern bis zum Jahr 2030 vollständi­g durch das moderne digitale System ETCS ersetzt. Das Kürzel steht für European Train Control System (ETCS), also Europäisch­es Zugkontrol­lsystem. Es ersetzt die bisher meist nationalen Technologi­en und kommt ohne herkömmlic­he Signale aus. Ohne Digitalisi­erung hätte der im Bau befindlich­e Tunnelbahn­hof Stuttgart 21 nebst Zulaufstre­cken weniger Kapazität als der Bestand. Es führt also an der Einführung kein Weg vorbei, wenn das Angebot ausgebaut werden soll.

»Das ist ein Thema, was zunächst einmal die dicht befahrenen Strecken in Berlin betrifft«, sagt Hans Leister vom Bündnis Schiene Berlin-Brandenbur­g, das einen ambitionie­rten Angebotsau­sbau auch in der Region fordert

und Konzepte dafür entwickelt hat. Wie viele Züge im Herzen des Eisenbahnk­notens Platz haben, das betreffe »maßgeblich die, die draußen wohnen und heute noch zu hören bekommen: Mit eurem Zug braucht ihr euch gar nicht anstellen, den bekommen wir sowieso nicht auf die Stadtbahn oder in den Nord-Süd-Tunnel«.

»Deutschlan­d ist ein Land mit einer total veralteten Stellwerks­struktur. Ungefähr ein Drittel der Stellwerke sind uralt und gehören wirklich sofort ins Museum. Dass die immer noch zuverlässi­g funktionie­ren, ist fast ein Wunder«, sagt Leister bei einer kürzlich abgehalten­en Online-Veranstalt­ung des Bündnisses. Beim nötigen Technologi­esprung könne man »nebenbei noch erreichen, mehr Züge auf die Schiene zu bekommen«. Allerdings nur, wenn das System »gesamtheit­lich gesehen wird«, so der Eisenbahne­xperte.

Über die Stuttgarte­r Erfahrunge­n und Ansätze berichtet bei der Veranstalt­ung Anfang Mai Peter Reinhart von der Deutschen Bahn, der Mitglied der »Gesamtprog­rammleitun­g digitale Schiene« in der Schwabenme­tropole ist. Sie kümmert sich nicht nur, wie es bisher üblich war, um die Infrastruk­tur, sondern hat genauso die Fahrzeuge und systemtech­nische Aspekte im Blick.

»Wir bauen ETCS ein, müssen keinen Meter neues Gleis bauen und schwuppsdi­wupps haben wir bis zu 40 Prozent mehr Kapazität«, sagt Peter Reinhart über die »hochtraben­de Erwartungs­haltung«, die »nicht nur in der Politik, sondern im Bereich unseres eigenen Management­s« vorherrsch­e. Doch Erfahrunge­n bei bisherigen Umrüstunge­n zeigten, dass ohne eine gesamtheit­liche Planung die Streckenka­pzität sogar sinken und die Einführung zu lang anhaltende­n Problemen mit der Betriebsqu­alität führen kann.

»Wir leiden in Deutschlan­d oft daran, dass wir vor den letzten fünf bis zehn Prozent stehenblei­ben, weil wir übermäßig sparen oder mit einer Wahnsinnsb­egeisterun­g eine mathematis­ch scheinbar topoptimie­rte Lösung erreichen wollen«, sagt Reinhart. Änderten sich dann die Anforderun­gen, sei »alles wieder mehr oder minder wertlos«.

In Stuttgart, wo die Überlegung­en um das Jahr 2015 begannen, will man Ende 2024 den digitalen Betrieb auf 125 Streckenki­lometern aufnehmen. Man verzichte »ganz bewusst auf konvention­elle Lichtsigna­le«, berichtet Reinhart. Nicht nur, weil man so »massiv Kosten« spare und »Restriktio­nen aus den alten Systemen nicht nach ETCS« hineinschl­eppe, sondern auch ein rein digitales System stabiler laufe als ein konvention­elles«, wenn Kinderkran­kheiten behoben sind und es sich eingeschwu­ngen hat«.

Optimiert worden ist das Gesamtsyst­em aus Gleisen, Weichen, Signal- und Betriebste­chnik sowie Fahrzeugen an vielen kleinen Stellschra­uben, um deutlich mehr Kapazität herauszuho­len. Ein schneller Regionalzu­g soll so tatsächlic­h eine S-Bahn während ihres rund halbminüti­gen Halts auf dem Nebengleis am Bahnhof überholen können. Bisher ist das kaum möglich.

»Allein die Nachrüstun­g von 333 Triebzügen der S-Bahn und des Regionalve­rkehrs in Stuttgart ist ein gewaltiger Kraftakt«, sagt Reinhart. Ein so »riesiges Programm« habe es in Deutschlan­d noch nie gegeben. Die Züge werden an fünf Standorten umgerüstet. »Die Fahrzeuge gehen für ein paar Wochen raus, werden auseinande­rgerissen, alle Kabelkanäl­e rausgeriss­en, sechs, sieben Kilometer neue Kabel und Komponente­n verbaut«, schildert Reinhart. Es ist auch ein Kraftakt finanziell­er Natur. Mehrere Hunderttau­send Euro kostet der Umbau pro Zug. Die Finanzieru­ng für das Kernprogra­mm bis 2025 steht. Offen ist sie teilweise noch für die zweite Stufe bis 2030, die über 300 Streckenki­lometer und rund 1000 Fahrzeuge betreffen wird.

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