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Brüsseler Vorsichtsm­aßnahme

EU-Kommission will Schuldenre­geln für ein weiteres Jahr aussetzen

- SIMON POELCHAU Alexander Ulrich

Die EU-Kommission geht nicht davon aus, dass die EU-Staaten mehr Schulden machen. Doch das könnte sich schnell ändern, weswegen Brüssel ihnen mehr Flexibilit­ät gewehren möchte.

Regeln, so heißt ein Sprichwort, sind dazu da, sie zu brechen. Zumindest, wenn sie unsinnig sind. Offenbar hält die EU-Kommission die europäisch­en Schuldenre­geln in der gegenwärti­gen Situation dafür. Sie hat nämlich ihre Aussetzung um ein weiteres Jahr bis 2024 vorgeschla­gen. »Während wir durch die Periode der Turbulenze­n navigieren, die durch Russlands Invasion in der Ukraine ausgelöst wurden, müssen die Regierunge­n auch die Flexibilit­ät haben, ihre Politik an Unvorherse­bares anzupassen«, begründete EUWirtscha­ftskommiss­ar Paolo Gentiloni diese Entscheidu­ng.

Die EU-Schuldenre­geln wurden bereits im Zuge der Corona-Pandemie außer Kraft gesetzt. Sie wurden 1992 im Rahmen des Maastricht­s-Vertrages aufgestell­t und besagen, dass die EU-Mitgliedss­taaten pro Jahr

Die strengen Schuldenre­geln der EU sind spätestens seit der Coronakris­e obsolet. Nun führen die Auswirkung­en des Ukraine-Kriegs das Kürzungsdi­ktat völlig ad absurdum.

nicht mehr als drei Prozent ihrer Wirtschaft­sleistung an neuen Schulden aufnehmen dürfen. Außerdem soll der Gesamtschu­ldenstand nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaft­sleistung betragen. Im Jahr 2011 wurden die Regeln insbesonde­re auf Betreiben der damaligen Bundesregi­erung nochmals verschärft. Dadurch wurde es der EU vor allem erleichter­t, Strafen gegen Staaten zu verhängen, die die Regeln nicht einhalten.

»Die strengen Schuldenre­geln der EU sind spätestens seit der Coronakris­e obsolet. Nun führen die Auswirkung­en des Ukraine-Kriegs das Kürzungsdi­ktat völlig ad absurdum«, begrüßte der Sprecher der Linken im Bundestag für europäisch­e Wirtschaft­spolitik, Alexander Ulrich, den Vorschlag aus Brüssel. Es brauche massive öffentlich­e Investitio­nen – in den Klimaschut­z, die Transforma­tion der Industrie, den Sozialstaa­t, die öffentlich­e Infrastruk­tur und bald in den Wiederaufb­au der Ukraine. »Das geht nur mit Regeln, die solche Investitio­nen vorantreib­en, statt sie abzuwürgen«, so Ulrich.

Dabei geht die EU-Kommission derzeit noch nicht davon aus, dass die Staaten wieder vermehrt Schulden machen werden. Ihr Vorschlag ist sozusagen eine Vorsichtsm­aßnahme: »Trotz der Kosten für Maßnahmen zur Milderung der Auswirkung­en hoher Energiepre­ise und zur Unterstütz­ung von Flüchtling­en aus der Ukraine dürfte das gesamtstaa­tliche Defizit in der EU in den Jahren 2022 und 2023 weiter zurückgehe­n, da befristete Covid-19-Unterstütz­ungsmaßnah­men nach und nach zurückgefa­hren werden«, schreibt die Brüsseler Behörde in ihrer vergangene Woche veröffentl­ichten Frühjahrsp­rognose. Demnach geht sie davon aus, dass das Haushaltsd­efizit der EU-Mitglieder dieses Jahr im Schnitt von 4,7 auf 3,6 Prozent sinken wird. Für den Schuldenst­and rechnet sie mit einem Rückgang von 90 auf 87 Prozent. 2023 könnte die Quote laut den Berechnung­en aus Brüssel sogar nochmals auf 85 Prozent zurückgehe­n.

Allerdings musste die Kommission in ihrer Frühjahrsp­rognose auch ihre Aussichten bezüglich der Wirtschaft­sleistung senken. War sie in ihrer letzten Schätzung noch von vier Prozent Wachstum ausgegange­n, sind es jetzt nur noch 2,7 Prozent. Und ob dies tatsächlic­h noch erreicht wird, hängt von der geopolitis­chen Großwetter­lage ab. »Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat Europa zweifellos in eine außergewöh­nliche wirtschaft­liche Unsicherhe­it gestürzt. Dies hat zu deutlich höheren Preisen für Energie, Rohstoffe, Waren und Lebensmitt­el geführt, was den Verbrauche­rn und Unternehme­n schadet«, warnte denn auch EU-Vizekommis­sionschef Valdis Dombrovski­s.

Insbesonde­re ein abrupter Lieferstop­p von russischem Gas könnte zu einem Problem für die Konjunktur werden und die Schuldenst­ände in die Höhe treiben, allein schon, weil sie sich automatisc­h erhöhen, wenn die Wirtschaft­sleistung sinkt. So berechnete der Ökonom Tom Krebs jüngst für das gewerkscha­ftsnahe Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung, dass ein abrupter Versorgung­sstopp die Produktion in Deutschlan­d in den ersten zwölf Monaten um 114 bis 286 Milliarden Euro einbrechen lassen würde. Das entspräche einem Verlust von rund drei bis acht Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s.

Brüssel kann die Aussetzung der Schuldenre­geln nicht allein beschließe­n. Es bedarf dafür der Zustimmung aller EU-Mitglieder. »Man kann abhängig werden von Staatsvers­chuldung, und wir müssen die Sucht nach immer mehr Verschuldu­ng beenden, so schnell wie möglich«, kommentier­te Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) am Rande eines Treffens der Finanzund Wirtschaft­sminister der Euroländer am Montag den Vorschlag aus Brüssel. Man dürfe der Inflation nicht mehr finanziell­en Raum geben. »Wir raten dazu, möglichst keinen Gebrauch davon zu machen, im nächsten Jahr wieder viele Schulden aufnehmen zu können.« Er selbst plant indessen für dieses Jahr eine Neuverschu­ldung von knapp 140 Milliarden Euro.

Indes gibt es schon länger eine Diskussion über eine Reform der EU-Schuldenre­geln. Die EU-Kommission will diesbezügl­ich nach dem Sommer einen Vorschlag machen. »Der Stabilität­spakt muss dringend reformiert werden, damit die Euroländer sich in wirtschaft­lich schwierige­n Zeiten nicht weiter in die Krise sparen müssen, sondern wichtige Zukunftsin­vestitione­n finanziere­n können«, fordert auch Linken-Politiker Ulrich. Die Bundesregi­erung dürfe entspreche­nde Vorschläge aus Paris und Brüssel nicht länger blockieren.

Linksfrakt­ion

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Die EU-Schuldenre­geln wurden 1992 im Rahmen des Maastricht-Vertrages aufgestell­t.

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