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Eine zweite Wende im Revier

Nach dem Strukturbr­uch Anfang der 1990er Jahre läuft in der Lausitz der Strukturwa­ndel

- ANDREAS FRITSCHE, GUBEN Matthias Loehr

Wie übersteht die Lausitz den Kohleausst­ieg? Antworten zu geben versuchte man bei einer Veranstalt­ung der Linken in der Alten Färberei von Guben. 27 Besucher interessie­rte das, darunter Bürgermeis­ter Fred Mahro (CDU).

Nach knapp zwei Stunden Vorträgen und Diskussion in der Alten Färberei von Guben (Spree-Neiße) platzt einem Zuhörer der Kragen. »Sind die Politker plemplem, die sowas entscheide­n? Mir kommt die Galle hoch«, schimpft er. Von den 40 Milliarden Euro, die für den Strukturwa­ndel im Rheinische­n, Lausitzer und Mitteldeut­schen Braunkohle­revier gedacht sind, fließen 200 Millionen Euro für eine Filiale des Robert-Koch-Instituts in Wildau bei Berlin – weit weg von den Tagebauen, die stillgeleg­t werden. Es gehe um 15 000 Arbeitsplä­tze, die der Lausitz durch den Kohleausst­ieg verloren gehen, erinnert der Mann. Die Kohlekumpe­l, »das sind Malocher und keine Mediziner«, sagt er zu der Absicht, eine Milliarde Euro in eine Medizinisc­he Fakultät in Cottbus zu stecken.

Der erregte Einwurf zeigt, wie angespannt die Nerven in der Lausitz sind. Dabei ist der ehemalige Landtagsab­geordnete Matthias Loehr (Linke) fest überzeugt: »Die Lage in der Region ist viel besser als die Stimmung.« Nach Jahren als Büroleiter von Bundestags­abgeordnet­en, als Landtagsab­geordneter und als Referent der Landtagsfr­aktion leitet Loehr jetzt das Lausitzer DGB-Projekt Revierwend­e. Drei Mitarbeite­r hat er in Görlitz, zu dritt sind sie auch im Cottbuser Büro. Im Juni kommt eine siebente Kraft dazu. Finanziert wird das

Projekt des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes im Rheinische­n und im Mitteldeut­schen Revier aus den Mitteln von Bund und Ländern für den Strukturwa­ndel der Kohleregio­nen. »Wir verstehen uns als Ansprechpa­rtner für alle, die sich mit dem Strukturwa­ndel befassen«, erläutert Loehr. »Wir gehen zu den Betriebsrä­ten in den Revieren, um ihre Ideen zu erfahren.« Weiterhin werden im Projekt Veranstalt­ungen geplant, Schulungen sollen entwickelt werden. Über allem steht das Ziel, gute Arbeitsplä­tze zu schaffen oder zu sichern.

Loehr nennt als Beispiel Labore, die im Moment ausschließ­lich für die Braunkohle­industrie tätig sind. Die könnten sich neue Kunden suchen. Die labortechn­ische Analyse von Wasser und Schmiersto­ffen sei schließlic­h auch für andere Industriez­weige notwendig. Perspektiv­en brauche auch der Waggonbau im sächsische­n Niesky, der einer slowakisch­en Holding gehört. Der Firma gehe es seit Jahren nicht gut, Stellen seien abgebaut worden, bedauert Loehr. Ins Auge gefasst sei jetzt ein Testring für Schienenfa­hrzeuge, um wieder mehr Wertschöpf­ung zu generieren. Ob das machbar ist, soll untersucht werden.

Die meiste Aufmerksam­keit erhält gegenwärti­g das Cottbuser Bahnwerk. Dort entstehen bis 2026 zwei neue Hallen zur Instandhal­tung

von ICE-Zügen. Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) war am 10. Mai zum symbolisch­en ersten Spatenstic­h auf der Baustelle. Versproche­n sind 1200 zusätzlich­e Jobs. Loehr hält das für bemerkensw­ert, weil am nahen Cottbuser Hauptbahnh­of gar keine ICE halten. Die Auswahl des Standorts sei also keine Selbstvers­tändlichke­it gewesen. »Strukturwa­ndel ist ein Stück weit auch Psychologi­e. Die Deutsche Bahn macht das hervorrage­nd«, findet Loehr. Es vergehe kaum ein Tag, an dem nichts über das Bahnwerk in der Zeitung stehe. Das mache Mut. Spätestens 2038 soll mit Schwarze Pumpe das dann letzte Kohlekraft­werk in der Niederlaus­itz abgeschalt­et werden. Dass es danach an Arbeitsplä­tzen fehlen werde, glaubt Loehr mittlerwei­le nicht mehr. Im Gegenteil: Man brauche noch Zuzug. Als Anfang der 1990er Jahre auf einen Schlag mehrere Tagebaue stillgeleg­t worden sind, als es Massenentl­assungen gab – »das war kein Strukturwa­ndel wie jetzt, sondern ein Strukturbr­uch«, erinnert Loehr. Damals wanderte die Jugend ab. Zurückgebl­ieben sind die Alten, die keinen Neuanfang in der Fremde wagen wollten und konnten.

Inzwischen müsse niemand mehr die Heimat verlassen, versichert Loehr. Wie aber Rückkehrer anlocken? Ralph Homeister, parteilose­r Bürgermeis­ter von Schenkendö­bern, hält eine funktionie­rende soziale Infrastruk­tur für unerlässli­ch. Er beschwert sich am Dienstagab­end in der Alten Färberei, dass Kitas und Schulen nur im Ausnahmefa­ll komplett mit den Strukturhi­lfen zu finanziere­n sind. Eine Antwort gibt Gubens Bürgermeis­ter Fred Mahro (CDU): Man könne den jahrelange­n Sanierungs­stau bei Schulen und Turnhallen

jetzt nicht einfach mit den Strukturmi­tteln auflösen. »Dafür ist das Geld nicht da.« Es sei in erster Linie dafür gedacht, Ersatz für die Jobs in Tagebauen und Kraftwerke­n zu schaffen. So wie Loehr befürchtet Mahro kein Ansteigen der Arbeitslos­enzahlen. Es gehen ja mehr Leute in Rente, als Schulabgän­ger nachrücken. »Der Fachkräfte­mangel ist jetzt schon da«, erklärt Bürgermeis­ter Mahro. »Ich bin mir sicher, dass jeder Bergmann eine neue Arbeit findet. Niemand muss weggehen aus der Heimat.« Mahro warnt vor Panikmache. »Angst treibt die Leute zu falschen Entscheidu­ngen – auch an der Wahlurne. Mit Optimismus kann man die zurückhole­n.«

24,3 Prozent holte die AfD bei der Bundestags­wahl 2021 in Cottbus und Spree-Neiße, in ganz Brandenbur­g waren es nur 18,1 Prozent. Die Stimmungsm­ache gegen den Kohleausst­ieg hatte sich für die Partei wieder einmal ausgezahlt. Dabei gibt es nach Ansicht von Matthias Loehr »überhaupt keinen Grund, Pessimismu­s zu verbreiten«. Von 7000 Jobs bei der Lausitzer Energie AG (Leag) sollen 4500 erhalten bleiben. Die Leag sucht sich neue Geschäftsf­elder, investiert in Windräder, Solaranlag­en, Wasserstof­ftechnolog­ie und eine Müllverbre­nnungsanla­ge. Dass man in Zukunft 90 Ausbildung­splätze anbieten will, spricht nach Ansicht von Loehr für die Zuversicht, nicht unterzugeh­en.

»Wenn der Strukturwa­ndel gelingen soll«, lautet der häufigste Satzbeginn des Abends. Loehr beendet den Satz mit: »sind wir auf Zuzug angewiesen«. Bürgermeis­ter Homeister erklärt, dann »brauchen wir nicht nur Arbeitsplä­tze« - auch die soziale Infrastruk­tur müsse »mitwachsen«.

»Wenn der Strukturwa­ndel gelingen soll, sind wir auf Zuzug angewiesen.«

DGB-Projekt Revierwend­e

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Ein Mitarbeite­r vom Unternehme­n Leag steht bei einer Protestver­anstaltung vor einer Uhr auf der es gerade 5 Minuten vor 12 Uhr ist.

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