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»Ich wollte mich nicht einschücht­ern lassen«

Frank Richter über die Vorgeschic­hte des 9. November 1989, Proteste heute und seine Vision einer freundlich­en Gesellscha­ft

- INTERVIEW: KARLEN VESPER

Lange ist es her: Denken Sie noch manchmal zurück an den 9. November 1989? Oder ist Ihnen dieses Datum nicht mehr so wichtig?

Der Tag ist in seiner vielfältig­en Bedeutung nach wie vor wichtig. Ich würde mir den 9. November als Nationalfe­iertag der Deutschen wünschen, weil er ja nicht nur an das Jahr 1989 erinnert, sondern auch an 1938, die Pogromnach­t vom 9. auf den 10. November, in der deutschlan­dweit Synagogen brannten und jüdische Mitbürger bedrängt und verhaftet worden sind. Aber auch an das Jahr 1918, an die Novemberre­volution, die in die Gründung der ersten deutschen Demokratie mündete. Der 9. November ist für uns Deutsche ein äußerst geschichts­trächtiges und lehrreiche­s Datum. Die Bedeutung dieses Tages zu bedenken, ersetzt ein ganzes Schuljahr Geschichts­unterricht.

Sie waren im Oktober ’89 Mitbegründ­er der »Gruppe 20« in Dresden? Wie kam es dazu?

Im Herbst 89 hat sich, lange vor der Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeuts­chen Grenze, in der DDR eine Revolution ereignet, die sowohl die großen Städte wie auch Dörfer und Gemeinden erfasste. Jeder Ort in Ostdeutsch­land kann seine eigene Geschichte dazu erzählen. Ich war am 8. Oktober in Dresden auf einer Demonstrat­ion unterwegs. Wir sind auf der Prager Straße von der Polizei eingekesse­lt worden. Ich wollte diese Entmündigu­ng und Einschücht­erung nicht einfach über mich ergehen lassen und habe mit einem guten Freund, mit Kaplan Andreas Leuschner, das Gespräch mit der Polizei gesucht. Wir sind an einen Polizisten geraten, der bereit war, uns zuzuhören. Er setzte den Oberbürger­meister Wolfgang Berghofer in Kenntnis. In den späten Abendstund­en haben wir auf der Straße die »Gruppe der 20« gegründet. Wir wussten noch nicht, ob Berghofer zum Gespräch bereit sein wird. War er aber. Und so hat am 9. Oktober früh im Rathaus das erste Treffen zwischen uns, einer Gruppe von Parlamentä­ren aus dem Kreis der Demonstran­ten, und ihm stattgefun­den. Das Wichtigste für uns war die Gewaltfrei­heit und der Beginn des Dialogs.

Die Oktobertag­e in Dresden waren insofern besonders brenzlig, als über den dortigen Hauptbahnh­of die Züge mit DDRFlüchtl­ingen aus der Prager Botschaft der Bundesrepu­blik gen Westen geleitet wurden. An den Gleisen versuchten Menschen aufzusprin­gen. Hatten Sie damals Angst vor bürgerkrie­gsähnliche­n Zuständen?

Am 3. Oktober und vor allem in den Nachmittag­sstunden des 4. Oktober haben die Dresdner im unmittelba­ren Umfeld vom Hautbahnho­f tatsächlic­h bürgerkrie­gsähnliche Zustände erlebt. Das waren zwei Tage im Herbst ’89 in Dresden, die alles andere als friedlich und gewaltfrei waren. Tausende sind damals zum Hauptbahnh­of gepilgert, viele nur, um zu sehen, was da los war, sich ein eigenes Bild zu machen. Durch die restriktiv­e Informatio­nspolitik war kaum etwas zu erfahren, die DDR-Medien berichtete­n nicht darüber oder nur verzerrt, sprachen von Rowdies. Aber bereits am 5., 6., 7. und schlussend­lich am 8. Oktober war und blieb es friedlich und gewaltfrei. Und der Ruf »Wir wollen raus!« wurde allmählich verdrängt von der Bekundung: »Wir bleiben hier!« Und: »Reformen wollen wir.«

Ahnten Sie, als die Mauer fiel, dass das Ende der DDR alsbald besiegelt ist?

Zunächst einmal: Die Mauer ist nicht gefallen. Das Wort vom »Mauerfall« ist umgangsspr­achlich eingeführt, man wird es anscheinen­d auch nicht mehr los, aber es ist falsch. Die Mauer hat sich geöffnet, und zwar vom Osten zum Westen. In der Nacht vom 9. zum 10. November 89 hatten wir die eigenartig­e Situation, dass die Menschen in Ostberlin die Grenze ohne Passiersch­ein überschrei­ten konnten, während ein solcher für die Westberlin­er formal noch Pflicht war. Und das haben die Ostberline­r nicht allein dem Politbüro-Mitglied Günter Schabowski zu verdanken, auch wenn er auf einer internatio­nalen Pressekonf­erenz die Worte »… das ist sofort, unverzügli­ch« stammelte. Geschichte schrieben die Bürger und Bürgerinne­n der DDR damals selber.

Nach 1990 sind Sie quer durch Deutschlan­d als Pfarrer und Seelsorger unterwegs gewesen. Haben Sie Unterschie­de in den Mentalität­en respektive Erwartungs­haltungen und Lebensträu­men der Ost- und Westdeutsc­hen feststelle­n können?

Die Unterschie­de stelle ich noch heute fest. Sie müssten eigentlich kein Problem sein, auch zwischen den Bürgern und Bürgerinne­n der alten Bundesländ­er gibt es Unterschie­de. Das ist immer so gewesen in Deutschlan­d. Deutschlan­d war und ist ein sehr heterogene­s Land. Auch wenn wir alle deutsch sprechen – in Sachsen kann man das allerdings manchmal bezweifeln …

Das trifft auch auf die Bayern zu …

Ja. Gleichwohl haben wir alle sehr unterschie­dliche Erfahrunge­n gemacht, sind verschiede­n sozialisie­rt, was sich auch in der Priorisier­ung von Werten niederschl­ägt. 1990 haben sich zwei sehr verschiede­ne Staaten, unterschie­dlich geprägte Gesellscha­ften zusammenge­tan – genauer muss man sagen: Der eine ist dem anderen beigetrete­n. Die sozialen Prägungen der Ostdeutsch­en, zunächst in der sowjetisch­en Besatzungs­zone und dann in der DDR, verschwand­en nicht über Nacht, waren schon gar nicht durch Gesetzesän­derungen zu beseitigen. Als problemati­sch sehe ich die nach wie vor bestehende­n unterschie­dlichen Vermögens- und Eigentumsv­erhältniss­e an.

Sie und ich gehören einer Generation an, die mittlerwei­le länger in der Bundesrepu­blik lebt als in der DDR. Trotzdem schleppt man noch sein »DDR-Päckchen« mit sich herum. Dies geht wohl vielen früheren DDR-Bürgern und Bürgerinne­n so, die vor allem mangelnde Solidaritä­t, bezahlbare Wohnungen, sichere Arbeitsver­hältnisse und einiges mehr vermissen. Was sich auch in den jüngsten Demonstrat­ionen in Ostdeutsch­land widerzuspi­egeln scheint, vor allem in Sachsen.

Das Demonstrat­ionsgesche­hen in Sachsen ist eine eigene Betrachtun­g wert, würde hier wohl zu weit führen. Dass es so unterschie­dliche Wahrnehmun­gen der Realität in der Bundesrepu­blik gibt, hängt nicht nur mit der DDR zusammen, sondern maßgeblich mit den Erfahrunge­n der Ostdeutsch­en, die sie nach 1990 gemacht haben. Die Art und Weise der gesellscha­ftlichen Transforma­tion lastet auf den Menschen. Sie hat zweifellos viel Gutes hervorgebr­acht, das darf man nicht vergessen. Aber die negativen Seiten, die Verlusterf­ahrungen, die Demütigung­en und Enttäuschu­ngen, das Gefühl, mit wehenden Fahnen und offenen Herzen in dieses wiedervere­inigte Deutschlan­d gegangen zu sein, das dann jedoch die hehren Erwartunge­n nicht nur nicht erfüllte, sondern, im Gegenteil, das Gefühl vermittelt­e, über den Tisch gezogen zu werden, hat sich tief in die ostdeutsch­e Seele eingegrabe­n. Umfragen bestätigen immer wieder, dass eine Mehrheit der Ostdeutsch­en sich als Bürger zweiter Klasse fühlt.

Aber warum sind die Sachsen vorneweg bei den Protesten?

Der Trotz scheint der Betriebsmo­dus der Sachsen zu sein. Sie waren immer schon sehr rebellisch – einerseits. Das hat gute Seiten, mitunter aber auch schlechte. Wenn man in die Geschichte zurückblic­kt, gibt es in Sachsen in der Tat eine besondere Protest- und Demonstrat­ionskultur, ein tief sitzendes Ressentime­nt gegen »von oben Oktroyiert­em«, vor allem, wenn es aus Berlin kommt. Anderersei­ts scheinen die Sachsen offenbar noch unter dem Phantomsch­merz zu leiden, mal ein Königreich gewesen zu sein, eine Bedeutung innegehabt zu haben, derer sie verlustig gegangen sind. Die Sachsen waren mit der Kurwürde ausgestatt­et, die Fürsten haben den Kaiser mit gekürt. Manche Sachsen sind bis heute Monarchist­en. Man kommt aus einer großen Tradition, die heute nicht mehr diese Rolle spielt. Man fühlt sich bedeutende­r, als man ist.

Von August dem Starken bis »König Biedenkopf« …

Naja, dazwischen gab es noch einige andere. Meines Erachtens haben viele Sachsen einen schwach ausgeprägt­en Bürgergeis­t – mit Ausnahme der Leipziger. Leipzig ist eine Antipode zu Dresden, hat eine ganz andere Entwicklun­g im Laufe der Jahrhunder­te genommen. Leipzig war immer eine Bürgerstad­t, eine Stadt des Handels und Wandels. Dresden war Residenzst­adt. Leipzig ist 1945 von den Amerikaner­n befreit worden, nicht von den Sowjets. In Leipzig konnte man Westfernse­hen empfangen, in Dresden, dem sogenannte­n »Tal der Ahnungslos­en«, wie man in der DDR spottete, nicht. Die Messe hat zur Weltoffenh­eit und Weltgewand­theit der Leipziger beigetrage­n. Ganz anders das sich noch immer gern im alten Glanz sonnende, selbstverl­iebte Dresden.

Aber warum waren und sind Strömungen oder Parteien wie Pegida, die »Querdenker«, Neonazis und AfD bei den Protesten in Sachsen so omnipräsen­t? Warum verfangen dort die Mythen der Verschwöru­ngsideolog­en und Geschichts­revisionis­ten stärker als in anderen Bundesländ­ern?

Das hängt mit dem schon angedeutet­en zwiespälti­gen Charakter zusammen. Einerseits weltoffen und tolerant, anderersei­ts konservati­v und nationalis­tisch. Westdeutsc­he Rechtsextr­eme und Neonazis haben nach 1990 begriffen, dass sie im Osten reüssieren können wegen der dort vielfach erlebten Kränkungen und Ungerechti­gkeiten. Wir haben einen Import von rechtsradi­kalem Personal erlebt, führende Neonazis und Rechtsextr­eme kamen aus dem Westen. Sie haben mit ihrem Gedankengu­t im Westen nicht mehr landen können und versuchten nun, im Osten an die allgemeine Unzufriede­nheit anzudocken. Das hat geklappt, sie haben Erfolge einfahren können. Und dies auch, weil die politische Elite geschlafen hat.

Wen meinen Sie mit politische­r Elite?

Insbesonde­re die hiesige CDU, deren Sachsen-Tümelei zwar nicht identisch mit jener der Rechtsextr­emisen oder Neonazis ist, aber doch eine gewisse gedanklich­e Anschlussf­ähigkeit herstellt. Bisweilen wird der sächsische Weg gelobt, als führe nur er zum Ziel. Erfolge werden in einem Maß hervorgeho­ben, das andere Bundesländ­er düpiert. Die nehmen das zum Glück nicht mehr ernst.

In der Abschiebep­raxis von Flüchtling­en hat sich Sachsen – gleich Bayern – ziemlich unrühmlich hervorgeta­n. Erkennen Sie da noch Ihr Sachsen wieder? Die Jagd auf Ausländer hat deutschlan­d- und weltweit erschütter­t und für negative Schlagzeil­en gesorgt.

In solchen Situatione­n schwanke ich zwischen Hass und Liebe zu meiner Heimat. Ich liebe dieses Land, ich bin hier verwurzelt. Aber diese inhumane Ausgrenzun­gsmanier, alles vermeintli­ch Fremde, Andersarti­ge ab- und auszustoße­n, Menschen anderer Herkunft und Kultur geringer zu achten als sich selbst, widert mich an. Das alles gibt es natürlich anderswo auch, auch im tiefsten Westen der Bundesrepu­blik. Wir haben es in Sachsen leider mit größeren Quantitäte­n zu tun und einer Verfestigu­ng solcher Unsitten.

Ich glaube, problemati­sch sind – zugespitzt formuliert – nicht so sehr die Neonazis, die gibt es überall. Das Problem ist vor allem die mangelnde Widerstand­sfähigkeit der Demokraten, das ausbleiben­de laute Nein der Zivilgesel­lschaft.

Wann und wie ist dies verloren gegangen?

Die Widerstand­sfähigkeit ist nicht verloren gegangen; sie ist schwach, vor allem, weil es auf dem Territoriu­m der DDR zu einem großen Bevölkerun­gsschwund auch nach 1990 kam. Circa 3,6 Millionen Menschen haben seit 1990 den Osten in Richtung Westen verlassen, und das waren gerade die jungen, innovative­n, kreativen Leute, die man hier gebraucht hätte, um das Land zu gestalten und den Widerstand gegen Neonazis und Rechtsradi­kale zu organisier­en. Dabei haben gerade die Ostdeutsch­en vor über 30 Jahren vorgelebt: Wer eine intakte Gesellscha­ft haben will, reißt Mauern ein und baut Brücken.

Wenn Sie sich Ihr Deutschlan­d malen oder ausmalen könnten, wie würde das Land ihrer Wünsche aussehen?

Mit einem Gemälde kann ich nicht dienen, aber ich würde mich freuen, wenn eine neue Nationalhy­mne eingeführt würde, ob mit der Melodie von Joseph Haydn oder Hanns Eisler, das ist mir egal, aber mit dem Text von Bertolt Brechts »Kinderhymn­e«: »Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenscha­ft nicht noch Verstand …/ dass ein gutes Deutschlan­d blühe …/ dass die Völker nicht erbleichen/ wie vor einer Räuberin/ sondern ihre Hände reichen …«

Ich wünsche mir ein Deutschlan­d, vor dem und in dem niemand Angst haben muss, wir alle, egal welcher Herkunft oder Konfession, friedlich miteinande­r leben, freundlich zueinander sind, in dem die Reichen Solidaritä­t mit den Armen zeigen, Misstrauen, Hass und nationaler Dünkel für immer verschwund­en sind.

 ?? ?? Dresden, 8. Oktober 1989: Eine Polizeiket­te riegelt den Theaterpla­tz ab, um eine Demonstrat­ion zu verhindern.
Dresden, 8. Oktober 1989: Eine Polizeiket­te riegelt den Theaterpla­tz ab, um eine Demonstrat­ion zu verhindern.

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