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Ein Wegsehen war unmöglich

Gericht wertet im Stutthof-Prozess Erkenntnis­se aus Ortsbegehu­ng in KZ-Gedenkstät­te aus

- DIETER HANISCH

Trägt Irmgard F. als frühere Schreibkra­ft im Konzentrat­ionslager Stutthof Mitverantw­ortung für den Mord an tausenden Menschen? Während ein Historiker überzeugt ist, sät die Verteidigu­ng Zweifel.

Der 34. Tag der Verhandlun­g gegen Irmgard F. vor der Jugendkamm­er des Itzehoer Landgerich­ts wegen des Vorwurfs ihrer Beihilfe am systematis­chen Mord an insgesamt 11387 Gefangenen im ehemaligen Konzentrat­ionslager Stutthof bei Danzig stand ganz im Zeichen des am 4. November erfolgten Ortstermin­s am Tatort der NS-Massentötu­ngen. Für die Nebenklage­vertreter steht nach dem Besuch der heutigen polnischen Gedenkstät­te fest: Die Angeklagte muss all die verbrecher­ischen Geschehnis­se bei ihrer Tätigkeit als zivile Schreibkra­ft von 1943 bis 1945 in der Lagerkomma­ndantur mitbekomme­n haben.

Ganz anders bewertet die Verteidigu­ng den dreistündi­gen Termin zur Inaugensch­einnahme

des damaligen Tatorts. Entspreche­nd stellte Wolf Molkentin einen Antrag, das vom vorsitzend­en Richter Dominik Groß verlesene zehnseitig­e Protokoll nicht für die Beweisaufn­ahme zuzulassen. Während des Vortrags des Richters wurden begleitend zahlreiche Lichtbilde­r gezeigt, die sich auch Irmgard F. interessie­rt anschaute.

Für das Gericht ging es vor allem darum, sich einen persönlich­en Eindruck zu verschaffe­n, welche Sichtmögli­chkeiten es von welchen Räumen des Kommandant­urgebäudes auf das umliegende Gelände gab und welche damaligen Lagerabsch­nitte dabei im Blickfeld gelegen haben müssen. Zur Einordnung und wegen seines Detailwiss­ens über das vergleichs­weise kleine Lager Stutthof wurde die deutsche Reisegrupp­e 77 Jahre nach den NS-Verbrechen vom im aktuellen Prozess bereits mehrfach als Sachverstä­ndigen zu Wort gekommenen Historiker Stefan Hördler begleitet. Der Besuchster­min des Landgerich­ts Itzehoe war der erste eines deutschen Gerichts nach Kriegsende in dieser Gedenkstät­te.

Die hochbetagt­e Angeklagte machte den Ortstermin nicht mit. Ihr Anwalt Molkentin kritisiert­e im Laufe des Prozesses bereits mehrfach Hördlers Einlassung­en. Besonders entlastend­e Aspekte für F. habe der Historiker komplett ausgespart. Für die Projizieru­ng geschichtl­icher Zusammenhä­nge auf seine Mandantin stütze sich Hördler vornehmlic­h auf Schlussfol­gerungen, so Molkentin, der Richter Groß bezüglich des Ortstermin­s in der Vorwoche empfohlen hatte, sich mehr auf seine eigenen Wahrnehmun­gen zu verlassen und weniger auf die Bewertunge­n des Historiker­s.

Und dann ging der Strafverte­idiger noch einmal auf die Sichtachse­n aus der Schreibstu­be, dem Arbeitspla­tz von F., ein. Für ihn gab es von dort lediglich einen Blick auf das Areal des neuen Lagerteils, aber vor allem nicht auf die Gaskammer und das Krematoriu­m. Seit Prozesssta­rt vor mehr als einem Jahr hat F. von ihrem Schweigere­cht Gebrauch gemacht. Keine einzige Zeugenauss­age von Lagerüberl­ebenden hat sie persönlich belastet, niemand konnte sie eindeutig identifizi­eren. Auch wurde kein Dokument mit einer Unterschri­ft von ihr gefunden. Somit läuft alles auf einen Indizienpr­ozess hinaus und dabei insbesonde­re auf die Bedeutung von Hördlers Aussagen zur genauen Rolle von F.

Es hatte zwar im Zuge der Strafverfo­lgung von SS-Lagerkomma­ndant Paul Werner Hoppe 1954 auch Vernehmung­en und eine Zeugenauss­age von F. gegeben, doch diese darf im laufenden Prozess nicht verwendet werden. Auch 1964 und 1982 wurde sie zu Stutthof befragt – aber eben nicht als Beschuldig­te. Auch diese Quelle bleibt auf Betreiben Molkentins daher für die Anklage im laufenden Prozess verschloss­en. Auch erlangte Erkenntnis­se aus einer Befragung 2017 durch einen Staatsanwa­lt in Begleitung eines Kriminalbe­amten im Zimmer ihres Altenstift­s hält Molkentin für nicht verwertbar.

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