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»Demokratie wurde hier nie praktizier­t«

Pater José María Fojeira über den Ausnahmezu­stand in El Salvador

- INTERVIEW: ANDREAS BOUEKE

Was denken Sie über den gegenwärti­gen Ausnahmezu­stand in El Salvador?

Auf dem Papier ist das Gesetz fragwürdig, aber formal legal, doch in der Umsetzung geht jegliche Legalität verloren. Es gibt Zehntausen­de Festnahmen ohne Haftbefehl, ohne Beweise, nur auf Grund von Vermutunge­n oder anonymen Hinweisen. Jugendlich­e werden wie Erwachsene behandelt. Die Liste der Verstöße gegen nationales und internatio­nales Recht ist lang.

Was will die Regierung damit erreichen?

In der Theorie ist das Ziel positiv. Der Staat soll mehr Durchsetzu­ngskraft im Kampf gegen die kriminelle­n Banden bekommen. Aber in der Praxis ist ein Desaster der Willkür entstanden, das mit den illegalen Inhaftieru­ngen beginnt und bis zu Folter und Mord reicht. Die meisten Probleme gibt es in den Gebieten, die von der Polizei als besonders risikoreic­h bezeichnet werden. Dort nimmt sie jeden jungen Mann mit, den sie schnappen kann.

Gibt es nicht zumindest einige Charakteri­stika, nach denen Verdächtig­e ausgewählt werden?

Neulich habe ich mich mit einigen Priestern und Nonnen getroffen, um über die Situation zu sprechen. Ein Theologies­tudent sollte auch dazukommen. Aber auf dem Weg zum Konvent wurde er festgenomm­en. Es gelang ihm, uns anzurufen. Daraufhin eilten wir zu der Straßenkon­trolle. Trotz der bewaffnete­n Soldaten sind die Nonnen mutig in den gesicherte­n Bereich eingedrung­en. So konnten sie den Kommandant­en zur Rede stellen und den jungen Mann rausholen. Aber all die anderen wurden an die Polizei übergeben. Die entscheide­t, ob jemand freigelass­en wird oder nicht. Nahezu niemand kommt frei.

Was geschieht nach einer Festnahme?

Ich weiß zum Beispiel von einer ersten Verhandlun­g für 300 Angeklagte. Die Richterin hat der Staatsanwa­ltschaft viel mehr Zeit eingeräumt als den Verteidige­rn. Einen Stapel Unterlagen, der die Unschuld vieler Angeklagte­r hätte beweisen können, hat sie nicht einmal angeschaut. In nur vier Stunden traf sie die Entscheidu­ng, alle 300 Personen für mindestens sechs Monate in Untersuchu­ngshaft zu sperren. Auf das endgültige Urteil werden die meisten noch viel länger warten müssen.

Wie konnte es zu solchen Zuständen kommen?

Die Regierung argumentie­rt, sie sei in einem langen Krieg gegen das organisier­te Verbrechen. Deshalb müsse der Ausnahmezu­stand immer wieder verlängert werden. So entsteht eine schlimme Krise, vor allem in den Gefängniss­en. Schon in der Vergangenh­eit hat es dort Epidemien gegeben, Tuberkulos­e zum Beispiel; außerdem nimmt die Gewalt und die Zahl der Morde innerhalb der Haftanstal­ten zu.

Aber El Salvador ist doch ein demokratis­cher Staat, oder?

Nicht wirklich. Dies ist ein formal demokratis­ches Land, das die Demokratie nie praktizier­t hat. Die gegenwärti­ge Situation ist tatsächlic­h besonders extrem, aber im Grunde genommen war es schon immer so. Deshalb hoffen so viele Leute auf den Erfolg autoritäre­r Lösungen. In Wahrheit ist die Demokratie in allen Bereichen gescheiter­t, in der Wirtschaft, in den Besitzverh­ältnissen, im fehlenden Ausgleich der extremen Wohlstands­unterschie­de.

Geht es in dieser Situation auch um Konflikte zwischen Arm und Reich?

Dies ist eine Gesellscha­ft der Klassenunt­erschiede. In den wohlhabend­en Bezirken der Städte rauchen die Leute soviel Marihuana, wie sie wollen, ohne belästigt zu werden. Die jungen Leute auf dem Land hingegen kommen dafür ins Gefängnis. Sie haben keine Chance, eine Anstellung zu finden. Über 80 Prozent der jungen Erwachsene­n haben keinen Sekundarsc­hulabschlu­ss, und wenn sie doch einen schaffen, dann ist ihr Bildungsni­veau trotzdem völlig unzureiche­nd. Die Jugend von heute hat drei Optionen: Sie ist dazu verdammt, zwischen Armut, Kriminalit­ät und Migration zu wählen.

Was tut die Regierung von Präsident Nayib Bukele dagegen?

Viel zu wenig, aber die vorherigen Regierunge­n waren auch nicht besser. Vielleicht sind die gegenwärti­gen Politiker noch dreister, aber im Grunde leidet das Land schon lange unter extremer Gewalt, unter furchtbare­r Armut und unverfrore­ner Korruption. Auch deshalb unterstütz­t ein großer Teil der Bevölkerun­g

den Ausnahmezu­stand. Außerdem hilft es nicht, dass die entwickelt­en Länder im Norden kein wirkliches Interesse daran haben, was in den armen Ländern geschieht.

Gibt es keine Opposition?

Diese autoritäre Regierung hat kein Problem damit, das Gesetz nach ihrem Gutdünken aus

zulegen. Die einflussre­ichen Leute in der Gesellscha­ft trauen sich nicht, Kritik zu üben. Zurzeit protestier­en nur ein paar Menschenre­chtsgruppe­n. Ich selbst habe schon über solches Unrecht geschriebe­n, als Sie noch gar nicht Journalist waren. An der Universitä­t habe ich die Leichen meiner ermordeten Kollegen gesehen. Ich sage die Wahrheit und bringe mich damit in Gefahr. Was soll ich noch tun?

Wie steht die katholisch­e Kirche zu dem Ausnahmezu­stand?

In der Kirche gibt es wenige Personen, die sich mit Rechtsfrag­en beschäftig­en. Wir bieten zwar Seminare zu Menschenre­chtsthemen an, und es gibt ein paar kleine Einheiten für legale Beratung, aber gemeinhin bemüht sich die Kirche, die Dinge ohne juristisch­e Konflikte zu klären. Das bedeutet aber nicht, dass kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Ganz ehrlich: Wenn ich mich öffentlich äußere, dann fühle ich mich von der Kirche unterstütz­t. Manche Bischöfe vermeiden öffentlich­e Auseinande­rsetzungen mit der Regierung, weil sie nicht die Möglichkei­t aufs Spiel setzen wollen, den Familien zu helfen und vielleicht einzelne Unschuldig­e aus dem Gefängnis zu holen.

Wie wird es weitergehe­n?

Im Moment sehe ich keinen Ausweg. Wir müssen geduldig sein. Ich bin mir sicher, dass dieses Desaster früher oder später zu einem politische­n Scheitern führen wird. Die schiere Zahl der Fälle und die zunehmende­n Probleme werden das Bewusstsei­n der Menschen schärfen.

 ?? ?? Demonstrat­ion am 30. Juli in San Salvador gegen den Ausnahmezu­stand und im Gedenken an das Massaker an Studenten vor 47 Jahren.
Demonstrat­ion am 30. Juli in San Salvador gegen den Ausnahmezu­stand und im Gedenken an das Massaker an Studenten vor 47 Jahren.

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