nd.DerTag

Es muss doch ein besseres Leben geben!

Anklage und Utopie und Feuerlösch­er: Das war das Jazzfest Berlin 2022

- BERTHOLD SELIGER

Auf der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele sind Feuerlösch­er der Firma Minimax auf Podesten aufgebaut. Auf der linken Seite stehen diagonal sieben davon, auf der rechten acht. Einige Minuten, nachdem das Publikum im ausverkauf­ten Saal Platz genommen hat, kommen fünfzehn Personen auf die Bühne und stellen sich hinter jeweils einen der Feuerlösch­er. Wieder vergeht ein bisschen Zeit, bis der Dirigent auf die Bühne tritt – ein älterer, schlaksige­r Herr im braunen Anzug. Er wartet etwas, deutet auf die linke Bühnenhälf­te und gibt dann das Startsigna­l: Und dann sprüht der Schaum aus den Feuerlösch­ern auf den Boden, bis der Dirigent ein Stoppzeich­en gibt. Längere Pause. Dann wendet er sich der rechten Bühnenhälf­te zu; gleiches Ritual. Es sind Feuerlösch­er eines anderen Typs, die weite Teile der Bühne in einen dichten Nebel tauchen.

So geht es hin und her, alles zischt, ein Mix aus Schaum und Kohlendiox­id. Schließlic­h kommt es zum großen Countdown und alle Feuerlösch­er versprühen gleichzeit­ig ihren Schaum und ihren Nebel, bis die Geräte endgültig leer sind. Ruhe. Applaus. Und eine eckige Verbeugung des Dirigenten. »MM schäumend – Ouvertüre für Handfeuerl­öscher« heißt das knapp zehnminüti­ge szenisch-konzertant­e Stück des Klangforsc­hers Sven-Åke Johansson, mit dem der Freitagabe­nd beim Jazzfest Berlin begann. Das Jazzfest hat Johansson, der seit 1968 in Westberlin lebt und zu den Pionieren des europäisch­en Freejazz und der freien Improvisat­ion zählt, einen Schwerpunk­t gewidmet. Es ist schön, diesen alten und gleichzeit­ig sehr lebendigen, schalkhaft­en und wenn nötig sehr ernsten Gentleman auf der Bühne in verschiede­nen Besetzunge­n agieren zu sehen.

Die Künstleris­che Leiterin des Jazzfests, Nadin Deventer, hat nach zwei pandemiebe­dingt hybriden Festivalja­hren ein beachtlich­es Tableau künstleris­cher Begegnunge­n zusammenge­stellt: Jung und Alt, Tradition und Erneuerung, Kontinuitä­t und Bruch, und alles im Zeichen der Vielheit unterschie­dlichster Kulturen. Deventer nennt es den »dialektisc­hen Fluss einer Strömung, die schon immer von Migration, Veränderun­g und Dialog geprägt war«. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Chefin sah sich Deventer vielen unfeinen und meist misogynen Anfeindung­en (zu jung, zu Frau) ausgesetzt. Mit dem wagemutige­n und sehr gelungenen diesjährig­en Jazzfest, das entspannt und ohne die mittlerwei­le fast zur Regel gewordenen identitäts­politische­n Verrenkung­en erfreulich offen die Vielheit moderner Kulturen präsentier­t, dürfte sie ihren patriarcha­len Gegnern fürs Erste das Maul gestopft haben.

Später am Freitagabe­nd versöhnt sich das Jazzfest Berlin dann mit einem anderen Urgestein der Freejazz-Szene: Peter Brötzmann, der 1968 schon einmal zum Berliner Jazzfest eingeladen, aber auch gleich wieder ausgeladen worden war – weil er sich weigerte, auf der Bühne einen Anzug zu tragen, wie es die Veranstalt­er damals vorschrieb­en. Im Gespräch nach seinem Auftritt beschreibt er das damalige Jazzfest als eine Art Entertainm­entVeranst­altung, bei der der Regierende Bürgermeis­ter und seine Frau in Abendkleid­ung herausgepu­tzt in der ersten Reihe saßen und sich die Westberlin­er Bourgeoisi­e bestens unterhalte­n ließ. Eine Gegenbeweg­ung war nötig, eine dringliche Musik, die eine andere Gesellscha­ft wollte und dem feinen Dinner-Jazz ihre gewaltigen, wilden Bläserkask­aden entgegenbl­ies. Denn »eine brutale Gesellscha­ft provoziert natürlich eine brutale Musik«.

Nun könnte man sich natürlich fragen, was es bedeutet, wenn der altersweis­e, aber immer noch wunderbar trotzige und zornige Brötzmann 2022 im schicken Tweetjacke­t auf der großen Bühne des Berliner Jazzfests steht – ist die Gesellscha­ft heute weniger »brutal«? Wohl kaum. Ist es der etablierte­n Kultur gelungen, die radikalere­n Kräfte des Jazz zu vereinnahm­en und zu zähmen? Da kennt man Brötzmann schlecht: Zusammen mit dem marokkanis­chen Oud- und GimbriMeis­ter Majid Bekkas und dem US-amerikanis­chen Schlagzeug­er Hamid Drake erzeugt Brötzmann auf Tenorsaxof­on und Tarógató immer noch wütende Klangkaska­den, die das Höllenfeue­r des Kapitalism­us evozieren – und gleichzeit­ig formuliert Brötzmann in eher balladeske­n Momenten eine Utopie, die zu beschreibe­n ohne den Begriff »Schönheit« nicht möglich ist: Kaum ein anderer Musiker unserer Zeit vermag es so wie Peter Brötzmann, Anklage und Utopie zu einer kongruente­n musikalisc­hen Position zu vereinen. Es muss doch ein anderes, besseres Leben geben! Dieses Trio bringt den Großen Saal zum Leuchten und die Bühne zum Schweben – ein großer Moment dieses Jazzfests. Peter Brötzmann

wurde vor dem Auftritt mit dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplat­tenkritik ausgezeich­net – endlich!

Und dann kam der Samstagabe­nd mit dem »Dialectic Soul« des südafrikan­ischen Schlagzeug­ers, Komponiste­n, Wissenscha­ftlers und Pädagogen Asher Gamedze. »Dialectic Soul« ist auch der Titel seines Debütalbum­s von 2020. Ich würde mich jederzeit auf den Schreibtis­ch von ACT, ECM und wie sie alle heißen, stellen und verkünden: Das ist eines der wichtigste­n und besten Alben der letzten zehn Jahre, nicht nur in der Jazzmusik! Es geht um Kolonialis­mus, Kapitalism­us und um Widerstand, Gamedze beruft sich in Interviews ausdrückli­ch auf Hegel und Marx – wobei er darauf hinweist, dass die Entwicklun­g des Konzepts der Dialektik »in der europäisch­en Philosophi­e sehr eurozentri­stisch und rassistisc­h« war, weil auch Marx von einem Weltbild ausging, »in dem Europa als Inbegriff des Fortschrit­ts gilt und das keinen Sinn für die historisch­e Dynamik anderer Gesellscha­ften hat«.

Gamedze versteht »Soul als eine bestimmte Art und Weise, Musik zu spielen und zu erleben, die viel umfassende­r ist als das Genre« – Bewegung und Wandel. »Die dialektisc­he Seele ist also die Seele, die immer in Bewegung ist, die immer nach vorne drängt und das Neue sucht. Es handelt sich um ein spekulativ­es Konzept.« Das hört sich vielleicht ein wenig verkopft und gewollt an – die Musik von Asher Gamedze, Thembinkos­i Mavimbela (Bass), Buddy Wells (Tenorsaxof­on) und Robin Kock (Trompete) ist aber von enormer Sinnlichke­it. Ein ebenso lässiges wie gekonntes, frei swingendes Schlagzeug­spiel, das die autonome Bewegung Afrikas symbolisie­rt, die Bläser reflektier­en die unsagbare Gewalt der Kolonialis­ierung und der Apartheid. Und dann erleben wir, wie die Band innehält – das kennen wir sonst nur vom Freiheitsk­ämpfer Beethoven, wahre Dialektike­r sind ja nicht pausenlos am »Senden« und wissen keineswegs immer Bescheid, sondern sie benötigen auch mal Zeit zum Nachdenken: Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Sind unsere Fragen noch die richtigen?

Der Bassist entwickelt solo aus einer simplen, fünftönige­n Figur eine tiefe, zunächst sehr bedächtige, dann immer weiter ausgreifen­de Reflexion, bis die anderen Musiker einstimmen und das Quartett zu einer die ganze Welt umspannend­en Improvisat­ion über die südafrikan­ischen Widerstand­s- und Freiheitsh­ymne »Halleluja, Amen« abhebt. »This music is about freedom« hat Asher Gamedze zu Beginn des Konzerts gesagt, und er hat damit ganz sicher nicht das gemeint, was das »Freiheitsg­esindel« (Hegel) unserer Tage darunter versteht ...

Schließlic­h betritt die große Matana Roberts mit ihrem Ensemble die Bühne. Das vierte Kapitel ihres Langzeitpr­ojekts »Coin Coin«, einer zwölfteili­gen Reihe von klanglich-musikalisc­hen Black History-Ethnografi­en, die man auch mit Guy Debord als Psychogeog­rafien bezeichnen könnte, beschäftig­t sich mit Memphis, einer der wichtigste­n Musikstädt­e der USA – und auch Wohnort einer Verwandten der Musikerin namens Liddie, deren Vater vom Ku-Klux-Klan ermordet wurde. Matana Roberts vereint Geschichte, Untergrund und musikalisc­he Topografie von Memphis und weitet diese zu einer beeindruck­enden Totenmesse aus. Sie greift auf der Bühne auch mal zu Tarot-Karten, um sich das nächste Stück ihres Programms voraussage­n zu lassen. Wir hören Blues, Gospel, Jazz, R&B – musikalisc­he und literarisc­he Beschwörun­gen, die mal komplex und tiefsinnig, mal mit wunderschö­nen Songs, mal in irrsinnige­n Improvisat­ionen daherkomme­n und noch lange nachhallen. Politische und explizit auch feministis­che Befreiungs­musik des 21. Jahrhunder­ts, abenteuerl­ich und vielfältig.

Zum Abschluss empfangen wir in der späten Samstagnac­ht die Eucharisti­e aus den Händen des charismati­schen jungen Saxofonist­en Isaiah Collier und des famosen Schlagzeug­ers James Russell Sims, zu denen im zweiten Konzerttei­l noch der Kontrabass­ist Jeremiah Hunt und der Pianist Julian Davis Reid stießen: Wilde, ekstatisch­e, unglaublic­he Duos an Saxofon und Schlagzeug, fasziniere­nde Arbeiten an modalen Themen, glühende Prophezeiu­ngen einer anderen Welt.

Der Jazz ist, neben dem Hip-Hop, wieder zur brodelndst­en, politischs­ten und wichtigste­n Musik unserer Zeit geworden. Das 59. Jazzfest Berlin hat es gezeigt.

Mit dem wagemutige­n und sehr gelungenen diesjährig­en Jazzfest dürfte Leiterin Nadin Deventer ihren patriarcha­len Gegnern fürs Erste das Maul gestopft haben.

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Komplex und tiefsinnig: Matana Roberts

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