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Schwarz steht für Fassungslo­sigkeit

Nach der Massenpani­k von Itaewon kommt Südkorea nicht zur Ruhe. Es könnte ein politische­s Beben folgen

- FELIX LILL, SEOUL Der Autor wurde zur im Text genannten Konferenz von den Veranstalt­ern eingeladen. Seine journalist­ische Unabhängig­keit war ihm vorab zugesicher­t worden.

Nach der Massenpani­k in Seoul mit mehr als 150 Toten taumelt Südkorea zwischen Trauer und Wut. Demonstrat­ionen fordern nicht nur Aufklärung, sondern einen Wandel. Politiker geloben Besserung, aber es ist nicht die erste Tragödie.

Als Jun Choi seine Fotos durchging, bekam er einen Kloß im Hals. Nach kurzem Zögern drückte er an seiner Kamera die Taste mit der Aufschrift: »Alles löschen«. Hunderte junge Menschen hatte der Fotograf bei den Halloween-Feiern in Seoul abgelichte­t, mit den Ergebnisse­n war er zufrieden gewesen. »Die Leute sahen lustig und glücklich aus«, sagt Jun. Ein Graf Dracula war dabei, eine Hexe, ein Superman. Endlich, nach zweieinhal­b Jahren Pandemie, konnten sie in der südkoreani­schen Hauptstadt wieder ausgelasse­n feiern.

Was Jun Choi den Rest gab, war eine junge Frau, die sich als Engel verkleidet hatte. »Ich sah sie in meinen Aufnahmen wieder und musste an den Moment denken, als ich sie auf der Straße fotografie­rte. Und dann dachte ich an das, was später noch geschah. Vielleicht ist sie jetzt wirklich ein Engel.« Jun Choi, ein kräftig gebauter junger Mann mit kurz rasierten Haaren und tätowierte­m Hals, hat feuchte Augen, als er das sagt. »Ich hätte es nicht mit mir vereinbare­n können, wenn ich die Fotos behalten und mit dem Leid der Opfer Geld verdient hätte.«

Deswegen ist der Fotograf noch einmal an den Ort zurückgeke­hrt, den er bis vor einigen Tagen noch als Mittelpunk­t des Vergnügens kannte. Nun aber sei er das Sinnbild für eine vermeidbar­e Tragödie. Mindestens 156 Menschen kamen inmitten von Halloween-Feiern bei einer Massenpani­k im Seouler Partyviert­el Itaewon ums Leben. Ein Mangel an Kontrollen, um den enormen Menschenan­drang auf den engen Straßen zu verhindern oder zu steuern, gilt seither als wichtigste­r Grund für die Katastroph­e.

Es war das erste Halloween-Fest seit Beginn der Pandemie, zu dem es keine strengen Beschränku­ngen gab. Der Ansturm wurde aber nicht nur unterschät­zt, sondern offenbar ignoriert. Am Abend gingen nämlich zahlreiche Notrufe bei der Polizei ein, bei denen sich in der Menge befindende Personen Hilfe anforderte­n. Die Polizei aber blieb lange untätig. Inzwischen weiß man, dass ein Polizeiauf­gebot in der Nähe der Massenpani­k stationier­t war, um Demonstrat­ionen zu sichern. Wie es zu der Katastroph­e kommen konnte, das fragt seitdem das ganze Land.

An einer Kreuzung über der U-Bahnstatio­n Itaewon nahe dem Fluss Han mischt sich in den Verkehrslä­rm ein allgegenwä­rtiges Schluchzen. Ein auf dem Boden sitzender Mönch läutet eine Glocke und klopft auf einen Metallstab, um der Trauer einen Takt zu geben. Um ihn herum breitet sich ein Meer weißer Blumen aus, am Geländer kleben bunte Zettel mit Trauerbots­chaften. »Warum musste das passieren?«, steht auf einem. Als Jun Choi seine Kamera runternimm­t, fragt er: »Warum sind jetzt, wo die Katastroph­e längst geschehen ist, plötzlich mehr als genug Polizisten hier?«

Die »Massenpani­k von Itaewon«, wie die Katastroph­e mittlerwei­le in den Medien bezeichnet wird, zieht längst politische Kreise. Nicht nur, dass Präsident Yoon Suk-yeol Staatstrau­er verkündet hat. Am Mittwoch wurden auch Polizeiwac­hen durchsucht, um herauszufi­nden, warum die Offizielle­n, die eigentlich für die Sicherheit der Menschen verantwort­lich sind, ihre Aufgaben nicht erfüllt haben. Zumal sich keine 50 Meter von der Stelle, wo am Samstag so viele Menschen starben, eine Polizeiwac­he befindet. »Wir werden alles aufklären«, verspricht Yoon, »bis keine Zweifel mehr bleiben.«

Nicht nur die demonstrat­ive Entschloss­enheit des Präsidente­n verrät, wie sehr diese Katastroph­e am Selbstvers­tändnis rüttelt, das Südkorea von sich hat. Sechs Kilometer südöstlich von Itaewon bietet ein langes Schweigen des Wirtschaft­sministers ähnliche Einblicke. Auf der »Invest Korea Week«, einer internatio­nalen Konferenz, die ausländisc­hen Investoren die Attraktivi­tät des Wirtschaft­sstandorts Südkorea anpreisen soll, wollte Ahn Duk-geun eigentlich nur über die starke Halbleiter­industrie und die effiziente Bürokratie dozieren.

Doch auf einer Pressekonf­erenz wird auch er darauf angesproch­en, wie es zu dieser Massenpani­k kommen konnte. »Sie können mich beim Wort nehmen«, sagt der Wirtschaft­sminister zögerlich auf Englisch, während er eben noch Koreanisch gesprochen hat. »Die koreanisch­e Gesellscha­ft wird nach dieser Tragödie eine sicherere und bessere werden.« Man

werde aus den Fehlern, den zu lax gehandhabt­en Sicherheit­sregeln, das Nötige lernen. »Wir werden aus dieser Lage eines Entwicklun­gslandes herauskomm­en.«

Eigentlich ist man in Südkorea stolz auf die Entwicklun­g des Landes. Schließlic­h gelang hier ein beispiello­ser Aufstieg: Im Jahr 1953, als der Krieg mit Nordkorea in einen Waffenstil­lstand mündete, hatte Südkorea noch zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Gut drei Jahrzehnte später war es dank kluger Industriep­olitik und einer lernfähige­n Gesellscha­ft zu einem Industries­taat geworden. Kaum irgendwo ist das Internet schneller, die Smartphone-Dichte höher. Südkoreas reale Wirtschaft­sleistung pro Kopf ist mittlerwei­le höher als die von Japan.

Und dennoch: Der Vergleich mit einem Entwicklun­gsland, der Wirtschaft­sminister Ahn im Eifer herausgeru­tscht ist, hat seine Gründe. Denn so eine Tragödie wie in Itaewon erschütter­t Südkorea nicht zum ersten Mal. Immer wieder kommen viele Menschen bei Unglücken ums Leben. Im Jahr 2005 etwa starben elf Leute im Gedränge bei einem Konzert in Sangju.

2014 folgte ein Fährunglüc­k, das Passagiers­chiff »Sewol« ging auf dem Weg zur Insel Jeju plötzlich unter, 306 Personen starben. Auch weil 250 davon Schülerinn­en und Schüler aus einer unterprivi­legierten Gegend waren, war der folgende Protest besonders groß. Die Regierung klärte damals das Unglück nur zögerlich auf. »Die Itaewon-Katastroph­e zeigt, dass sich überhaupt nichts geändert hat«, kommentier­t nun »Korea Times«.

Wobei es ein Missverstä­ndnis wäre anzunehmen, die öffentlich­e Sicherheit habe in Südkorea keinen Stellenwer­t. Zu Demonstrat­ionen für Arbeitnehm­errechte etwa rücken normalerwe­ise große Aufgebote von Polizisten aus und verhängen auch schnell Strafen bei relativ kleinen Regelübers­chreitunge­n. »Es muss etwas mit den Prioritäte­n zu tun haben«, sagt Chris Ha in Itaewon. Am Abend steht er mit dem Rücken zur improvisie­rten Trauerstät­te am Katastroph­enort und hält ein schlichtes, schwarzes Schild hoch. »Es ist jetzt genau 18 Uhr 34«, erklärt der 31-jährige Arzt, der nach seinem Feierabend direkt hierhergek­ommen ist. »Zu dieser Uhrzeit am Samstagabe­nd ging der erste dokumentie­rte Hilferuf bei der Polizei ein. Aber nichts geschah.« Schwarz stehe für Fassungslo­sigkeit.

Chris Ha trägt eine dunkelgrün­e Bomberjack­e, weißen Mundschutz und ist unübersehb­ar wütend. Er steht in einer Reihe mit ungefähr 100 jungen Menschen, von denen jeder ebenso ein schwarzes Schild vor sich hält. Von der Protestakt­ion erfuhr Ha über einen Gruppencha­t. »Wir erwarten Aufklärung«, sagt er in scharfem Ton. »Warum schützt der Staat nicht auch die Leben normaler Leute?« Es entstehe der Eindruck, dass die Polizei vor allem dann dazu bereit sei, wenn die Interessen der Regierung oder der Industrie gesichert werden sollen.

Auch der südkoreani­sche Präsident Yoon steht in der Kritik, zu viele Sicherheit­sressource­n zu verschling­en. Kurz nach seinem knappen Wahlsieg im März verkündete der Konservati­ve, dass er einen neuen Amtssitz

Eine Tragödie wie in Itaewon erschütter­t Südkorea nicht zum ersten Mal. Immer wieder kommen viele Menschen bei Unglücken ums Leben.

beziehen und anders als vorige Präsidente­n nicht mehr am Arbeitspla­tz wohnen würde. Durch das tägliche Pendeln werden 700 Polizeikrä­fte beanspruch­t.

»Der neue Amtssitz des Präsidente­n ist nur ein paar Minuten von hier entfernt!«, sagt Chris Ha. »Mir kann niemand erzählen, dass es uns an Polizisten in der Nähe mangelt. Es ist eine Frage der Ressourcen­verteilung.« Ha war an dem Abend, als die feiernde Menge in Panik ausbrach, in einer Bar ein paar Häuserbloc­ks weiter. Auf seinem Heimweg näherte er sich der Katastroph­enzone. »Es war surreal, wie in einem Zombiefilm. Meine Freunde und ich sahen verstört aussehende Menschen mit gruseligen Kostümen, wie sie davonliefe­n. Aber wir sahen keine Polizei.«

Polizisten wiederum haben die letzten Tage erklärt, sie seien überforder­t und überarbeit­et, was wiederum Fragen an die Regierende­n aufwirft. Die linksliber­ale Demokratis­che Partei, die sich derzeit in der Opposition befindet, hat bereits den Rücktritt des Präsidente­n, des Innenminis­ters sowie des Bürgermeis­ters von Seoul gefordert – allesamt Personen der konservati­ven Partei Macht des Volkes. Allerdings sorgte auch dies schon für Kritik. In Zeiten der Staatstrau­er gilt die Politisier­ung einer Katastroph­e als unanständi­g.

Dabei ist nicht zu erwarten, dass der Unmut,

den viele Menschen über die politische Führung empfinden, allzu bald abnimmt. Nach dem Fährunglüc­k der »Sewol« im Jahr 2014 brach eine riesige Protestwel­le los, die im Nachhinein den Anfang vom Ende der damaligen Präsidenti­n Park Geun-hye bedeutete. Acht Jahre später könnte das Verzeihen noch schwerer fallen.

Am Wochenende demonstrie­rten Tausende durch das Zentrum von Seoul. Viele fordern den Rücktritt des Präsidente­n. Neben schwarzen Schildern sind Kerzen das dominante Zeichen – die waren bereits ein Symbol der Proteste gegen Yoons Amtsvorgän­gerin und Parteikoll­egin Park Geun-hye, die nach ihrem behäbigen Krisenmana­gement rund um den »Sewol«-Untergang noch mit einem Korruption­sskandal zu kämpfen hatte. Ihre politische Karriere überlebte die Proteste nicht, Park wurde des Amtes enthoben.

Der amtierende Yoon Suk-yeol durchlebt gerade ähnlich unbequeme Zeiten. Seit Wochen protestier­en Tausende gegen den rechtspopu­listischen Präsidente­n. Insbesonde­re wird kritisiert, dass der ehemalige Generalsta­atsanwalt diverse Personen untersuche­n lässt, die zugleich politische Gegner von ihm sind. Längst wird ihm vorgeworfe­n, die Staatsanwa­ltschaft zu politisier­en. Um Proteste gegen den Präsidente­n abzusicher­n, war die Polizei auch an jenem Abend der Katastroph­e woanders. Seitdem sieht es einmal mehr so aus, als wäre Yoon Suk-yeol am eigenen politische­n Überleben mehr interessie­rt als am Wohle anderer. Entspreche­nd energisch tritt der Präsident jetzt auf und gelobt Aufarbeitu­ng.

Viele sind davon aber nicht überzeugt. Wie der Arzt Chris Ha sieht auch der Fotograf

Jun Choi in der Massenpani­k von Itaewon ein Problem der Ungleichhe­it. »Viele ältere Menschen mögen Itaewon nicht, weil es hier immer laut ist und die Leute so ausgelasse­n feiern«, hat er am Rande des Pflanzenme­ers geflüstert. »Das stimmt auch. Aber ich liebe diesen Ort. Ich wohne hier um die Ecke und fühle mich wohl. In die Bars kommen all die jungen Menschen, die vom stressigen Alltag voller Hierarchie­n und sozialer Erwartunge­n dringend eine Erholung brauchen.«

Arbeitnehm­erinnen in Südkorea genießen im Schnitt kaum zehn Urlaubstag­e pro Jahr, die Zahl jährlich geleistete­r Arbeitsstu­nden liegt höher als in fast jedem anderen Industries­taat, Hierarchie­n sind meist steil und stark nach Alter strukturie­rt. Wer jünger ist, hat in der Regel weniger zu sagen. »Und die öffentlich­en Feiertage müssen wir mit der Familie verbringen, wo uns dann auch noch mal gesagt wird, wie wir unser Leben zu leben haben«, so Jun Choi.

Deshalb sei ein Ort der Zügellosig­keit wie Itaewon so wichtig. »Ich habe all diese Menschen, die ich aus den Bars und Klubs hier kenne, nie als anstrengen­d und laut empfunden. Für mich waren es immer Opfer des harten Arbeits- und Alltagsleb­ens.« Mindestens 156 Personen, die von der Menge erdrückt wurden, seien nun zum zweiten Mal zu Opfern geworden. Und mit ihnen vielleicht ein ganzes Viertel? Jun Choi überlegt. »Ich glaube, Itaewon wird ab jetzt ein anderer Ort sein.«

»Mir kann niemand erzählen, dass es uns an Polizisten in der Nähe mangelt. Es ist eine Frage der Ressourcen­verteilung.«

Chris Ha

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(unten). Schwarze Plakate und Kerzen dominieren das Bild auf den Demonstrat­ionen nach der Halloween-Katastroph­e in Seoul. Die Wut richtet sich auch gegen die Politik, die viele dafür verantwort­lich machen, dass es zu der Massenpani­k kam und so gut wie keine Erste Hilfe geleistet wurde. Tage später haben Polizisten Schuhe von Opfern ausgestell­t, damit Angehörige sie abholen können

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