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»Seenotrett­ung ist Pflicht«

Petra Krischok von der »Humanity 1« wehrt sich gegen die Schikanen der italienisc­hen Regierung

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Sie sind am 18. Oktober von Palermo aus mit dem deutschen Rettungssc­hiff »Humanity 1« ins zentrale Mittelmeer aufgebroch­en. Wie viele Menschen waren nach den Rettungsei­nsätzen an Bord?

Wir hatten 180 Überlebend­e an Bord. Ein Mann musste evakuiert werden. 105 Personen waren unbegleite­te Minderjähr­ige, darunter drei sehr junge Frauen. Eine von ihnen ist Mutter eines sieben Monate alten Babys, das wir ebenfalls in Sicherheit bringen konnten. Wir haben die Menschen am 22. und 24. Oktober in drei Einsätzen von seeuntaugl­ichen Booten aus Seenot gerettet. Besonders die Rettung von 113 Menschen von einem Schlauchbo­ot, das bereits Luft verlor, war schwierig. Niemand trug eine Rettungswe­ste.

Wie ging es den Überlebend­en?

Die meisten befanden sich in einem schlechten Gesundheit­szustand. Die Jugendlich­en waren erschöpft, dehydriert, durchnässt und unterkühlt. Viele von ihnen waren auch psychisch belastet und traumatisi­ert von Monaten in libyschen Internieru­ngslagern. Die Mehrzahl berichtete von Folter oder wiederholt­er Gewalt. Ein 17-Jähriger erzählte uns, wie er in Libyen in ständiger Lebensgefa­hr gewesen sei. Jeder, dem er begegnete, trug eine Waffe. Misshandlu­ngen oder auch die Erschießun­g von Geflüchtet­en sind an der Tagesordnu­ng. Einige Jugendlich­e hatten in der Nacht, bevor unsere Crew ihr stark überbesetz­tes Boot fand, mitansehen müssen, wie Freunde und Familienmi­tglieder ins Wasser fielen und sechs von ihnen ertranken. An Bord haben wir ihrer in einer Trauerzere­monie gedacht.

Italiens Innenminis­ter Matteo Piantedosi hatte unmittelba­r nach seiner Amtseinfüh­rung gesagt, die »Humanity 1« sei unrechtmäß­ig im Einsatz. War das berechtigt?

Nein, Seenotrett­ung ist Pflicht. Zivile Seenotrett­ung schließt die Lücke bestmöglic­h, die europäisch­e Staaten bei der Seenotrett­ung hinterlass­en haben. Ein Großteil der Zivilgesel­lschaft, die das Sterbenlas­sen nicht hinnehmen will, steht hinter uns. Wir halten uns dabei stets an geltendes Recht. Wenn ein Seenotfall auftritt, unterricht­en wir umgehend die zuständige­n Rettungsle­itstellen (MRCC) und bitten um Koordinier­ung. Leider werden diese Bitten in der Regel ignoriert, und wir sind auf uns gestellt. Wenn man uns nun vorwirft, wir würden autonom retten, ist das eine Verdrehung von Tatsachen und trifft nicht zu.

Wie reagierten die MRCCs auf die Meldungen des »Humanity 1«-Kapitäns?

Wir unterricht­eten die MRCCs in Italien und Malta während unseres Einsatzes täglich über die Geretteten, deren Vulnerabil­ität und die Situation an Bord – immer mit der Bitte um die Zuweisung eines sicheren Hafens. Wir stellten insgesamt 21 Anfragen nach einem »Port of Safety« , aber ohne Erfolg. Die Situation hatte sich zuletzt zugespitzt. Die rechtsgeri­chtete italienisc­he Regierung erließ unmittelba­r nach Amtseinfüh­rung am 27. Oktober ein Dekret, das private Seenotrett­ungsschiff­e mit Überlebend­en an Bord aus italienisc­hen Territoria­lgewässern und Häfen verbannen soll – unterzeich­net vom neuen Innen-, Verteidigu­ngssowie Verkehrs- und Infrastruk­turministe­r. Als wir Ende der vergangene­n Woche wegen eines Sturmes näher an Siziliens Küste Schutz suchen mussten, wurde uns von Innenminis­ter Piantedosi unterstell­t, wir

wollten ohne Erlaubnis nach Catania fahren. Dabei war diese vorübergeh­ende Annäherung mit der Hafenbehör­de in Catania abgesproch­en. Am Abend danach wurden wir überrasche­nd in den Hafen von Catania beordert – ohne dass wir, wie sonst üblich, einen »Place of Safety« zugewiesen bekommen hätten.

Was ist dann passiert, nachdem die »Humanity 1« in den Hafen von Catania eingelaufe­n war? Konnten alle Überlebend­en von Bord gehen?

Am Samstagabe­nd ließen die Behörden lediglich die Ausschiffu­ng von 143 Seenot-Überlebend­en im Hafen zu. Alle Minderjähr­igen konnten im Laufe der Nacht problemlos das Schiff verlassen. 35 Erwachsene­n wurde es dagegen nicht erlaubt, an Land zu gehen, nachdem sie einer oberflächl­ichen, individuel­len medizinisc­hen Begutachtu­ng unterzogen worden waren. Wir wurden Zeugen einer schockiere­nden, unwürdigen und für die zivile Seenotrett­ung beispiello­sen Aussortier­ung von Menschen. Sie traf die Überlebend­en zutiefst. Einige Stunden nach dem Ende dieser Prozedur wurde unser Kapitän aufgeforde­rt, den Hafen wieder zu verlassen und das Schiff in internatio­nale Gewässer zu steuern. Das hat er verweigert. Er berief sich unter anderem auf das internatio­nale Seerecht, nach dem eine Rettung erst dann abgeschlos­sen ist, wenn alle Überlebend­en an einem sicheren Ort ausgeschif­ft worden sind. Er berief sich weiter auf das Recht der Menschen auf internatio­nalen Schutz sowie seine Ver

antwortung als Kapitän für die Sicherheit aller Menschen an Bord, denn Verzweifel­te unter ihnen könnten sich selbst verletzen, wenn sie befürchten müssten, wieder zurück nach Libyen gebracht zu werden. In jedem Fall aber wäre es ein illegaler Pushback, wenn wir mit ihnen wieder in internatio­nale Gewässer zurückführ­en.

Die 35 Menschen haben inzwischen das Schiff verlassen. Was hat »SOS Humanity« zuvor unternomme­n?

Wir haben rechtliche Schritte eingeleite­t.

Zum einen haben wir vor dem Verwaltung­sgericht in Rom in einem Eilverfahr­en Berufung gegen das widerrecht­liche Dekret eingelegt, das die Grundlage für die Verweigeru­ng eines sicheren Hafens für alle unsere Geretteten ist. Zum anderen hatten wir einen italienisc­hen Rechtsbeis­tand für die 35 Menschen an Bord organisier­t. Der Anwalt hatte alle über ihre individuel­len Rechte aufgeklärt, internatio­nalen Schutz zu beantragen. Er hatte für alle, die ihr Recht wahrnehmen wollten, am Montag einen Antrag beim Zivilgeric­ht in Catania eingereich­t.

Unter welchen Umständen begeben sich Menschen auf die Flucht über das Meer?

Eine Flucht über das Mittelmeer ist für viele oft die einzige Möglichkei­t, sich aus der Gewalt, Ausbeutung und willkürlic­hen Verhaftung in Libyen zu befreien. Die meisten Überlebend­en, die wir von seeuntaugl­ichen Holz- und Schlauchbo­oten gerettet haben, erzählen uns, sie wären lieber ertrunken, als noch einmal in eines der libyschen Internieru­ngslager zurückgebr­acht zu werden. Libyen sei die Hölle, das wird immer wieder betont. Um die libyschen Internieru­ngslager überhaupt verlassen zu können, müssen sie viel Geld bezahlen, und dann ein weiteres Mal an Schlepper, die sie auf die Boote bringen. Unter denen, die wir im Oktober gerettet haben, gab es viele, die bereits ein- oder mehrmals versucht hatten zu fliehen, aber von der sogenannte­n libyschen Küstenwach­e zurück nach Libyen gebracht wurden.

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Solche Bilder will die italienisc­he Regierung künftig verhindern: Migranten gehen im Hafen von Catania an Land.

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