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Der lange Weg zur Diagnose

Bei Mädchen werden autistisch­e Störungen oft nicht erkannt, weil sie sich besser anpassen

- ANGELA STOLL

Von Autismus betroffene Kinder fallen nicht immer auf. Daher werden die Diagnosen häufig erst spät gestellt. Für die Versorgung im Erwachsene­nalter gibt es zu wenige Therapeute­n.

Schulkinde­r fiebern normalerwe­ise den Pausen entgegen. Bei Christine Preißmann war das anders. Für sie waren ausgerechn­et die Pausen eine besondere Herausford­erung, da sie »unkontroll­iert, chaotisch und ohne jede Regel abzulaufen schienen«. Manchmal verbrachte sie die freien Zeiten deshalb auf der Schultoile­tte, wie sie in ihrem Buch »Überrasche­nd anders: Mädchen & Frauen mit Asperger« schreibt. Außerdem wollte sie nicht dadurch auffallen, dass sie allein war. »Ich sehnte mich damals keineswegs nach der Gesellscha­ft einer Freundin, aber ich wollte nicht seltsam wirken.«

Einigen Mädchen und Frauen mit einer autistisch­en Störung gelingt es offenbar gut, ihre Probleme zu verbergen, sodass sie kaum anecken. Die Diagnose wird daher oft spät gestellt, wie Preißmann berichtet: Sie war 27 Jahre alt, als das Asperger-Syndrom bei ihr festgestel­lt wurde. Bei anderen Frauen ist es noch später, bei einigen kommt es wahrschein­lich nie zur richtigen Diagnose.

Bis vor einigen Jahren nahm man gemeinhin an, dass Autismus-Spektrum-Störungen, zu denen das Asperger-Syndrom zählt, bei Jungen beziehungs­weise Männern wesentlich häufiger vorkommen. »Früher ging man davon aus, dass auf sechs bis acht Jungen ein Mädchen kommt«, sagt Preißmann, die selbst Ärztin für Psychother­apie und Autismus-Expertin ist. Inzwischen liegen die Schätzunge­n eher bei zwei zu eins. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine entscheide­nde Rolle spielt, dass Auffälligk­eiten im Sozialbere­ich bei betroffene­n Mädchen und Frauen oft nicht so stark ausgeprägt sind und es ihnen gleichzeit­ig gelingt, sich anzupassen.

»Die Gesellscha­ft gesteht es Mädchen eher zu, ruhig zu sein und den eigenen Interessen nachzugehe­n«, sagt Sonja Jacobs vom Kompetenzz­entrum Autismus Schwaben-Nord. So berichtet sie von Eltern, die für das Verhalten ihrer Tochter in der Kita immer gelobt worden waren: Das Mädchen könne sich gut mit sich selbst beschäftig­en und sei sozial sehr verträglic­h, hieß es. Erst später in der Schule gab es Probleme, die dazu führten, dass eine Autismus-Diagnose gestellt wurde.

Doch viele Autistinne­n fallen auch in der Schule nicht stark auf. Offenkundi­ger werden die Probleme meist im Teenager-Alter: »Das ist oft eine schlimme Zeit für Betroffene. Sie verlieren durch die Pubertät die Kontrolle über ihren Körper; außerdem sind ihre Interessen meist ganz andere als die ihrer Peergroup«, erklärt Jacobs. Auch Preißmann berichtet in ihrem Buch rückblicke­nd, wie der Abstand zu Gleichaltr­igen immer größer wurde – während diese tanzen gingen und sich für Jungen interessie­rten, beschäftig­te sie sich mit Flugplänen. Dennoch dauerte es bis zum Ende ihres Studiums, bis sich Preißmann selbst Hilfe suchte. »Das war eine Phase des Umbruchs, die für mich sehr schwierig war. Ich war depressiv und spürte immer stärker: Irgendetwa­s ist bei mir anders.«

Autismus-Spektrum-Störungen sind ein weites Feld. Laut ärztlicher Leitlinie sind allgemein Probleme im sozialen Umgang und der Kommunikat­ion kennzeichn­end. Das heißt, dass Beziehunge­n zu anderen Menschen für die Betroffene­n meist schwierig sind, zudem kann es zu Sprachstör­ungen kommen. Abgesehen davon fallen viele Autisten durch ste

reotype Verhaltens­muster – etwa bestimmte Routinen – und spezielle Interessen auf. Veränderun­gen bereiten ihnen häufig Probleme, zudem reagieren sie oft empfindlic­h auf Reize und brauchen viel Ruhe.

Die Auffälligk­eiten variieren deutlich von Mensch zu Mensch, zudem sind sie unterschie­dlich stark ausgeprägt und können sich im Lauf des Lebens ändern. Üblicherwe­ise werden in Deutschlan­d verschiede­ne Arten autistisch­er Störungen unterschie­den: vor allem der frühkindli­che Autismus, der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom, bei dem es oft keine Auffälligk­eiten in der Sprachentw­icklung und der kognitiven Entwicklun­g gibt. Da sich die Phänomene nicht klar voneinande­r abgrenzen lassen, verlieren die Kategorien aktuell allerdings an Bedeutung.

Galt Autismus früher noch als Seltenheit, gibt es heute Schätzunge­n, wonach etwa ein Prozent aller Menschen in irgendeine­r Form betroffen sind. Die Zunahme lässt sich damit erklären, dass mehr Fälle entdeckt werden. »Das Bewusstsei­n für das Thema ist in der Bevölkerun­g stark gewachsen«, sagt Jacobs. Zuletzt haben Prominente wie die Klimaaktiv­istin Greta Thunberg und der Unternehme­r Elon Musk mit Asperger-Diagnosen auf sich aufmerksam gemacht.

Werden autistisch­e Mädchen erwachsen, ohne dass die Störung erkannt wird, spitzt sich die Situation häufig weiter zu. »Es ist schwierig für sie, in Privat- und Berufslebe­n gleicherma­ßen bestehen zu können«, sagt Jacobs. Gesellscha­ftliche Normen und Rollenerwa­rtungen setzen Betroffene häufig unter Druck – zum Teil so sehr, dass sie Depression­en entwickeln. Gleichzeit­ig ist es gerade bei Erwachsene­n besonders schwierig, autistisch­en Störungen auf die Spur zu kommen. Das liegt auch daran, dass sich diese manchmal nur schlecht von anderen psychische­n Erkrankung­en – etwa sozialen Phobien – abgrenzen lassen.

Die Diagnostik, die Befragunge­n, Untersuchu­ngen und Beobachtun­gen umfasst, ist aufwendig, zudem gibt es nur wenige Experten, die auf Autismus bei Erwachsene­n spezialisi­ert sind und Diagnosen stellen können. Um einen Termin zu bekommen, müssten Betroffene mitunter jahrelang warten, berichtet Jacobs. »Da das so schwierig ist, sind wir froh, wenn die Ratsuchend­en noch unter18 sind.« Bei Kindern und Jugendlich­en ist die Versorgung­ssituation nämlich viel besser.

Tröstlich ist immerhin, dass man auch ohne richtige Diagnose an den Auffälligk­eiten arbeiten kann: Neben Psychother­apie kann vor allem auch Ergotherap­ie helfen, zum Beispiel den Alltag zu strukturie­ren. »Gerade junge Leute an der Schwelle zur Selbststän­digkeit haben oft Probleme, Beruf, Studium und Haushalt zu organisier­en«, sagt Preißmann.

Bekommen autistisch­e Frauen doch endlich ihre Diagnose, ist die Erleichter­ung meist groß. Zum einen verstehen sie dann, warum sie anders sind, zum anderen können sie mit einer maßgeschne­iderten Therapie beginnen. Auch Preißmann war im ersten Moment erleichter­t, als sie ihre Diagnose erfuhr. »Im zweiten Moment fragte ich mich, wie es weitergeht. Was wird jetzt machbar sein? Was wird nicht gehen?« Machbar war aber noch vieles für sie. Heute hat sie eine eigene psychother­apeutische Praxis und hilft anderen Menschen mit Autismus.

 ?? ?? Sich gut selbst beschäftig­en können, Ruhe suchen – das allein ist noch keine Störung.
Sich gut selbst beschäftig­en können, Ruhe suchen – das allein ist noch keine Störung.

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