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Wenn das Leben unbunt wird

Obwohl Depression­en gut behandelba­r sind, suchen Betroffene oft erst spät profession­elle Hilfe

- ULRIKE HENNING

Es dauert häufig monatelang, bis Menschen mit einer depressive­n Erkrankung einen Termin bei einem Facharzt oder Psychother­apeuten finden. Das zeigt das 6. Deutschlan­d-Barometer Depression.

»Ich hatte immer weniger Interesse an meinen Hobbys. Es fiel mir schwerer, morgens in den Tag hineinzuko­mmen. Das Leben wurde irgendwie unbunt«, erinnert sich Martha Wiencke an die erste Zeit ihrer Depression. Die heutige Maßschneid­erin machte sich als Jugendlich­e viele Gedanken, was denn mit ihr los sei. Elf Wochen nachdem sie angefangen hatte, sich Hilfe zu suchen, hatte sie ein Erstgesprä­ch mit einem Psychother­apeuten. Dort gab es aber keinen Therapiepl­atz für sie.

Ähnliche Erfahrunge­n machen bis heute viele Menschen, die an einer Depression erkranken. Bei der Vorstellun­g des neuen Deutschlan­d-Barometers Depression am Dienstag in Berlin kamen die teils langen Wartezeite­n auf einen Therapiepl­atz zur Sprache. Die Stiftung Deutsche Depression­shilfe und Suizidpräv­ention untersucht jährlich Einstellun­gen und Erfahrunge­n zu dieser psychische­n Erkrankung in der erwachsene­n Bevölkerun­g. In diesem Jahr ging es vor allem um die Behandlung­ssituation.

Über alle befragten Betroffene­n hinweg dauert es demnach durchschni­ttlich 20 Monate, bis sie sich Hilfe suchten. Ein Drittel macht sich sofort auf den Weg, bei den Übrigen dauerte es hingegen länger. Im Schnitt vergingen 30 Monate, also mehr als zwei Jahre, bis sie profession­elle Unterstütz­ung in Anspruch nahmen. Eine Mehrheit wandte sich zunächst an den Hausarzt. Jeder vierte Patient sucht einen Facharzt auf, und 19 Prozent wandten sich an einen Psychother­apeuten. Heilprakti­ker gaben nur 0,7 Prozent als erste Anlaufstel­le an. Wochenlang­e Wartezeite­n mussten die meisten Erkrankten in Kauf nehmen. Bis zum Erstgesprä­ch beim Psychother­apeuten vergingen im Schnitt zehn Wochen, beim Facharzt waren es acht Wochen. Durchschni­ttlich fünf Therapeute­n mussten die Betroffene­n nach eigener Erinnerung kontaktier­en, ehe sie einen Termin bekamen.

»Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefä­hrdung einhergeht, sind so lange Wartezeite­n nicht akzeptabel«, sagt Ulrich Hegerl, Vorsitzend­er der Stiftung Depression­shilfe. Der Neurologe und Psychiater forderte mehr Facharztsi­tze in Deutschlan­d, um solche Notlagen zu vermeiden.

Wie häufig im Zusammenha­ng mit psychische­n Erkrankung­en gibt es auch zu Depression­en eine ganze Reihe Vorurteile. So sind in der aktuellen Befragung Meinungen zu Antidepres­siva in der Allgemeinb­evölkerung schlechter als unter den Betroffene­n. Unter ihnen beurteilt eine Mehrheit sowohl Psychother­apie als auch Medikament­e als sehr oder eher hilfreiche Möglichkei­ten.

Gute Erfahrunge­n mit Psychophar­maka machte Martha Wiencke, die darüber auf der Berliner Pressekonf­erenz sprach: »Ich habe mich sogar geärgert, dass ich die Medikament­e erst relativ spät probiert habe. Erstmalig nahm ich sie vor fünf Jahren während eines Klinikaufe­nthaltes.« Für sie war die Medikament­enwirkung auch deshalb wichtig, weil sie sich sonst nicht in der Lage sah, therapeuti­sch zu arbeiten, sich etwa auf eine Gesprächst­herapie einzulasse­n. Sie nimmt ihre Mittel bis heute. Ein Versuch, diese wieder abzusetzen, gelang nicht. Besonders besorgt wirkt die junge Frau deshalb nicht. Das heißt nicht, dass sie allein auf die Pillen setzt.

Im Alltag sei Sport für sie sehr wichtig, sie schätzt die euphorisie­rende Wirkung eines guten Trainings. Außerdem hat sie Entspannun­gstechnike­n gelernt und nutzt im Winter morgens häufig eine Lichtthera­pie-Lampe. Es gibt also eine ganze Reihe von Möglichkei­ten, die jeder Betroffene erst probieren muss. Insgesamt, so Psychiater Hegerl, ist die Depression aber besser behandelba­r, als oft geglaubt wird.

Eine einzige Ursache für das Entstehen der Erkrankung gibt es laut Depression­shilfe in der Regel nicht. Die Veranlagun­g spielt Hegerl zufolge zwar eine große Rolle, die Gene allein erklärten es aber nicht. Auch frühe Trauma-Erfahrunge­n beeinfluss­ten das Risiko. Die Vorgänge im Gehirn seien noch nicht komplett verstanden.

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