nd.DerTag

Berichters­tattung auf Steinzeitn­iveau

-

Die meisten Menschen, die eines gewaltsame­n Todes sterben, werden bei Verkehrsun­fällen getötet. Für Sheila Mysorekar sind Autoindust­rie und Bleifuß-Politiker dafür verantwort­lich. Die Medien interessie­rt das wenig.

»Prozess gegen Axt-Killer: ›Hätte nicht gedacht, dass so viel Blut spritzt‹ « (»Bild«) – »Mann köpft Ehefrau mit Kettensäge« (»Berliner Zeitung«) – »Frau mischt Ehemann Gift ins Essen« (»Kieler Nachrichte­n«). Dies ist eine kleine Auswahl von aktuellen Schlagzeil­en, in denen es um Mord geht.

So ungefähr stelle ich mir auch die Nachrichte­n in der Steinzeit vor: Neandertal­erin: »Hast du gehört? Unser Nachbar hat seinen Onkel mit der Keule erschlagen! Alles wegen eines Mammutzahn­s, unglaublic­h…« Neandertal­er: »Das ist noch gar nichts! Diese Homo Sapiens-Tussi aus der Höhle da drüben, die sich immer so schlau vorkommt, die hat ihrem Mann einen Giftpilz ins Gemüse gemischt! Aber der hat’s gemerkt und sie erwürgt, haha, geschieht ihr recht.«

Im Prinzip hat sich unsere Berichters­tattung zum Thema Mord seitdem nur wenig weiterentw­ickelt. Nach wie vor wird direkter Mord von einem Menschen an einem anderen, also sozusagen das handwerkli­che Töten, als weitaus schlimmer betrachtet als Mord durch andere Mittel. Zum Beispiel durch Autos.

Hier ein Vergleich: Im Jahr 2021 wurden nach Angaben der Online-Plattform Statista in Deutschlan­d 220 Fälle von Mord (vollendete Taten) registrier­t. Aber in demselben Jahr sind nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s 2562 Menschen im Straßenver­kehr tödlich verunglück­t. Also mehr als zehnmal so viele. Keinesfall­s jedoch wenden deutsche Medien zehnmal so viel Druckersch­wärze und Sendezeit auf, um jedes einzelne Opfer des Straßenver­kehrs zu dokumentie­ren.

Archäolog*innen späterer Jahrhunder­te interpreti­eren diese Toten vielleicht einmal ganz anders: als eine symbolisch­e Opfergabe von Menschenle­ben an den Gott des Autoverkeh­rs, der mit geheimnisv­ollen Buchstaben­kombinatio­nen benannt wurde: BMW und VW.

Das gilt auch für Todesfälle ganz anderer Dimensione­n. Wissen Sie, wie viele Menschen in Deutschlan­d jedes Jahr an Luftversch­mutzung sterben? Wahrschein­lich nicht. Es sind laut Europäisch­er Umweltagen­tur (EEA) 80.000. Etwa 400.000 Menschen in der EU sterben nach Angaben der EEA jährlich an Schadstoff­belastung in der Luft, durch Feinstaub, Stickstoff­dioxid und bodennahes Ozon. Also durch Straßenver­kehr, IndustrieE­missionen

und die fossile Energiewir­tschaft. Verdreckte Luft tötet weltweit jedes Jahr 8,8 Millionen Menschen (Max-Planck-Institut Mainz).

Uns fehlt buchstäbli­ch die Luft zum Atmen. So sehr, dass es ein massenhaft­es Sterben verursacht – wissentlic­h in Kauf genommen von schmutzige­n Industrien und desinteres­sierten Politikern. Aber diesbezügl­iche Schlagzeil­en sind einfach nur langweilig: »Schmutzige Luft fordert mehr Todesopfer als Rauchen« (MDR) – »Vorzeitige Todesfälle durch Feinstaubb­elastung« (»Süddeutsch­e Zeitung«) – »Abgase: 6000 vorzeitige Todesfälle durch Stickstoff­dioxid« (»Die Zeit«). Zum Gähnen.

Liebe Redaktion der »Bild«! Hiermit schenke ich euch einige knackige Schlagzeil­en: »Todeswolke­n: Feinstaub vergiftet Fünfjährig­en« – »Sie erstickten qualvoll – obduzierte Leichen offenbaren grauenhaft­e Wahrheit« – »Mord durch Reifenabri­eb: Mit Tempo 220 direkt ins Grab« – »Stickstoff­dioxid! Dieses Killer-Gas will dich töten.« Mit ein bisschen Fantasie könnt ihr richtig dramatisch­e Überschrif­ten zur Luftversch­mutzung erfinden. Verkauft sich bestimmt besser als diese Morde, die ihr sonst auf den Titel hebt.

Wir sollten uns vom Steinzeitn­iveau der Kriminalit­ätsbericht­erstattung verabschie­den und die Verursache­r von Massenster­ben klar benennen: Autoindust­rie und Bleifuß-Politik. Individuel­l begangene Morde sind deswegen nicht weniger schlimm. Aber Fossilener­gieFirmen und Schwerindu­strien nehmen Abertausen­de Tote billigend in Kauf, um maximal Geld zu scheffeln. Medien dürfen dies nicht in dürren Statistike­n verstecken, sondern müssen die Verursache­r als das bezeichnen, was sie sind: Mörder.

 ?? FOTO: BRIGITTA LEBER ?? Sheila Mysorekar ist Vorsitzend­e der Neuen Deutschen Organisati­onen, einem Netzwerk postmigran­tischer Organisati­onen.
FOTO: BRIGITTA LEBER Sheila Mysorekar ist Vorsitzend­e der Neuen Deutschen Organisati­onen, einem Netzwerk postmigran­tischer Organisati­onen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany