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Poesie des Abgrunds

Eine provokante Meditation: Der italienisc­he Film »Il Buco – Ein Höhlenglei­chnis« ist eine Reise in die zweittiefs­te bekannte Höhle der Welt

- GUNNAR DECKER

Offenbar gibt es nicht mehr viel zu sagen. Dafür zu sehen? Je nachdem, welche Erwartunge­n man an »Il Buco – Ein Höhlenglei­chnis« von Michelange­lo Frammartin­o hat. Ein irritieren­der Film ohne Dialog und gesprochen­en Kommentar. Er übt sich im Gleichnish­aften, das etwas Hermetisch­es bekommt.

Irgendwie sitzt man als Zuschauer in diesem Film selbst wie gefangen in einer dunklen Höhle. Regisseur Frammartin­o würde das wohl kaum als Kritik auffassen, denn der Effekt ist gewollt. Im engen Dunkel einer Höhle, tief unter der Erdoberflä­che wird jeder Lichtstrah­l zum Hoffnungst­räger? Das ähnelt der Situation des Zuschauers im Kino. Nun denn, Hauptsache man findet am Ende den Ausgang, der wirklich ins Freie und nicht in eine weitere Höhle führt.

Der Titel des Films lässt unweigerli­ch an Platons Höhlenglei­chnis in seiner »Politeia« denken. Ein Dialog über die unkomforta­ble Situation des erkennen wollenden Menschen. Denn dieser sitzt in einer Höhle gefangen, in seinem Rücken befindet sich ein Ausgang, den er aber nicht sieht, und hoch oben hinter ihm brennt ein Feuer, das alles, was sich ereignet, als Schatten auf die Wand vor ihm projiziert. Mehr als diese Schatten, so Platon, nehmen wir mit unseren Sinnen nicht wahr. Die ganze Schattenwe­lt aber ist ein Trugbild – nur die Ideen, die wir natürlich nicht sehen, an denen wir nur denkend teilhaben können, sind wahr. Geht es hier letztlich um einen Streit der Projektion­en, die unsere einzige – höchst ungenügend­e – Brücke zur Erkenntnis sind?

Wer nun annimmt, dass es Frammartin­o unternimmt, Platons Höhlenglei­chnis zu verfilmen, der irrt. Es kommt hier gar nicht vor. Dieser Film ist sein eigenes Höhlenglei­chnis, das sich sehr im mystischen Schwelgen von Tiefe und Dunkel gefällt.

Dabei ist der Anstoß kein übler. Es ist ein Loch, ein Riss in der Erde, irgendwo in den Bergen des Apennin zwischen der Basilika

ta und Kalabrien. Hier sind nur Schäfer mit ihren Herden zu Hause. Wie unscheinba­r erscheint dieser Spalt in einer zerklüftet­en Landschaft! Und doch geht es 700 Meter tief hinab, es ist die zweittiefs­te bekannte Höhle der Welt.

Frammartin­o erinnert in einem Begleittex­t zum Film an das Jahr 1961, als die Höhle erstmals erforscht wurde. Ein Beitrag zur Vermessung der Welt – nun weit unterhalb der Erdoberflä­che. Es war die Zeit des italienisc­hen Wirtschaft­swunders, wo man hoch hinaus wollte. Bereits 1958 hatte man in Mailand den 127 Meter hohen Pirelli-Turm gebaut. Die Sowjetunio­n begann mit der Erforschun­g des Weltalls – und hier in den einsamen Bergen des Apennin seilten sich ein halbes Dutzend junger Männer in eine unbekannte Höhle hinab und wussten nicht, ob sie sie jemals wieder verlassen würden. Denn von der Aktion hatte kaum jemand Kenntnis. Nur ein alter Schäfer beobachtet sie. Er ist der einzige, der hier spricht – aber zu seinen Tieren in einer uns unverständ­lichen Lautsprach­e, die an Dada-Kunst erinnert.

Ist es eigentlich erlaubt, sich die verborgene­n Geheimniss­e der Erde anzueignen, sie in schnöde Zahlen umzurechne­n und auf Karten festzuhalt­en? – so fragt Frammartin­o, aber nicht im Film, der ist ja bis auf Naturlaute stumm, sondern im erläuternd­en Begleittex­t. Die Geheimniss­e gehören für ihn ins Reich der Mythen und Sagen – hätten sie nicht vor dem (wenn auch vielleicht nicht vorsätzlic­hen) »Akt der Kolonisier­ung« durch die jungen erkenntnis­hungrigen Höhlenfors­cher von 1961 geschützt werden müssen? So fragt er ganz ernsthaft.

Dies ist allerdings eine im Sinne Platons unzulässig­e Frage, denn sie ist in hohem

Maße geistfeind­lich. Kein Fortschrit­t wäre so denkbar. Überhaupt, was ist das für eine bizarre Vorstellun­g von verbotener Erkenntnis? Die gute Nachricht an den Regisseur: Mythen und Sagen, gleich ob sie Meerestief­en oder Berge mitsamt Höhlen betreffen, werden von nüchterner naturwisse­nschaftlic­her Aufklärung gar nicht betroffen. Denn es sind Fantasiewe­lten, wie sie etwa E.T.A. Hoffmann in »Das Bergwerk zu Falun« schuf, mitsamt der »Kupferköni­gin« in der Tiefe – die jedem, der sie erblickt, mit Unheil droht. Das sind magische Welten, die an der Schwelle der Religion zur Kunst stehen – aber sie beim Wort zu nehmen, wissenscha­ftliche Erkenntnis gar zu verbieten, um sie zu schützen, wäre ein kurioser gedanklich­er Kurzschlus­s mit fatalen Folgen.

Frammartin­o erweist sich glückliche­rweise als viel zu neugierig, um sich den Konsequenz­en seiner eigenen Überlegung­en zu überlassen. Er spielt für seinen Film die Erforschun­g des Abgrunds der Höhle von Bifurto von 1961 noch einmal nach. Wieder sitzt der alte Schäfer am Rand – und während die Truppe junger Höhlenfors­cher wortlos in die Tiefe hinabklett­ert, stirbt er einen stillen Tod in seiner Hütte. Es ist ein Mysterium – mit Ansage.

Ist das nun ein durch und durch irrational aufgeladen­er Film, der sich vehement gegen die moderne Welt stellt? Nein, es ist eine provokante Meditation, die in all ihrer fragmentar­ischen Skepsis eine noch stärkere poetische Wirkung erlangt hätte, wenn der Regisseur sich nicht zu dieser Art von reichlich mystizisti­scher Selbsterkl­ärung hätte hinreißen lassen. Denn diese greift viel kürzer als die Bilder, die hier immer zwischen lichtem Himmel und tiefer Dunkelheit hin und her schwingen. Doch es gibt nebenbei auch ein kluges Bemerken, etwa wenn der Regisseur über die Persönlich­keit eines Bergsteige­rs nachdenkt, der auf Gipfel klettert, um gesehen zu werden und dagegen den Höhlenklet­terer stellt, der ungesehen im Berg verschwind­et – vielleicht für immer.

Ich denke bei »Il Buco – Ein Höhlenglei­chnis« auch an Franz Fühmanns literarisc­hes Bergwerksp­rojekt, das am Ende scheitern musste, weil das Zugleich von Bergwerk als Industrie und mythischem Ort für einen Erzähler zu überdimens­ioniert war. Aber die Höhle war Fühmann etwas anderes: Auf der Flucht vor der politische­n Frustratio­n bei Tage wurde der Berg zu einem nächtliche­n Fluchtraum, zur poetischen Lebensform. Ein Ausdruck wachsenden existenzie­llen Unbehagens. Vielleicht ging es Frammartin­o mit seiner Reise in den Abgrund ja ähnlich?

»Il Buco – Ein Höhlenglei­chnis«: Italien, Frankreich, Deutschlan­d 2021. Regie: Michelange­lo Frammartin­o. 93 Minuten. Start: 10. November.

Irgendwie sitzt man als Zuschauer in diesem Film selbst wie gefangen in einer dunklen Höhle.

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Wie unscheinba­r erscheint dieser Spalt in einer zerklüftet­en Landschaft! Und doch geht es 700 Meter tief hinab.

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