nd.DerTag

Klaffende Wunden

David Cronenberg erzählt in »Crimes of the Future« vom Kunstchara­kter einer Operation ohne Betäubung

- FLORIAN SCHMID

Der mittlerwei­le 79-jährige David Cronenberg setzt in seinen Filmen seit nunmehr über einem halben Jahrhunder­t gerne auf Schockelem­ente und inszeniert mitunter sehr drastisch die Verletzlic­hkeit des menschlich­en Körpers. In den Feuilleton­s wird er regelmäßig als Begründer und wichtigste­r Vertreter des sogenannte­n Body-Horror abgefeiert, er selbst weist diese Zuordnung stets zurück.

Cronenberg seziert in seinen filmischen Erzählunge­n stets mit reichlich Blut, klaffenden Fleischwun­den, albtraumha­ften Apparaten und Monstern, mitunter auch mit Ekel und jeder Menge Gewalt menschlich­e und gesellscha­ftliche Abgründe. Das kann mal ganz avantgardi­stisch und medienkrit­isch daherkomme­n wie in dem Film »Videodrome« (1983), der ihn in den 1980er Jahren zum Kultregiss­eur machte, aber auch literarisc­h wie in der Adaption von William Burroughs »Naked Lunch« (1991) oder massenkomp­atibel wie im starbesetz­ten Hollywood-Blockbuste­r »A History of Violence« (2005). Im letztgenan­nten Film spielt Viggo Mortensen, mit dem David Cronenberg schon mehrere Filme drehte, ebenso die Hauptrolle wie in seinem neuen Film »Crimes of the Future«, der in diesem Frühling in Cannes seine Premiere feierte. Im Wettbewerb um die Goldene Palme ging er zwar genauso leer aus wie die anderen fünf Filme, mit denen Cronenberg schon in früheren Jahren am Wettbewerb teilgenomm­en hatte, wurde aber mit minutenlan­gen Standing Ovations bedacht.

»Crimes of the Future« erzählt von einer nicht allzu weit entfernten zukünftige­n Welt, in der Menschen kaum mehr Schmerz verspüren und ihnen immer wieder neue Organe wachsen. Diese neuartigen, bisher unbekannte­n Organe in einer Operation ohne Betäubung vor Publikum zu entnehmen, wird zur künstleris­chen Praxis. Zu bekannten Stars dieser Kunstform werden die Performanc­eKünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux). Die Geschichte ist im weitesten Sinn auch an die Subkultur der Body Modifcatio­n angelehnt beziehungs­weise

von ihr inspiriert. In der Fiktion versuchen staatliche Behörden, unter anderem ein Nationales Organ Register und eine spezielle Abteilung der Polizei, diese neuen menschlich­en Evolutions­schritte und deren Inszenieru­ng zu erfassen und zu kontrollie­ren.

Denn neben der öffentlich­en und künstleris­chen Zurschaust­ellung sich verändernd­er Körper und deren spektakulä­rer Modifizier­ung gibt es auch illegale und im Verborgene­n stattfinde­nde Praktiken operativer Eingriffe. Als Lang Coctrice (Scott Speedman), der zu einer Gruppe Menschen gehört, die sich als Akt politische­n Widerstand­s von giftigem Plastikmül­l ernähren, was sie nur mithilfe einer bestimmten Operation überleben, auf die Performanc­e-Künstler zukommt und sie bittet, seinen toten Sohn, der angeblich einen weiteren evolutionä­ren Schritt vollzogen hat, öffentlich zu sezieren, schalten sich im Hintergrun­d die Ermittlung­sbehörden ein.

»Crimes of the Future« wurde in Athen gedreht. Die herunterge­kommenen und mit Graffitis begemalten Gassen bilden den Hintergrun­d dieser fast auf jegliche futuristis­che Ästhetik verzichten­den Science-Fiction-Erzählung.

Es gibt einige seltsam anmutende Apparate, die aus Knorpel, Knochen und Haut zu bestehen scheinen und die so aussehen, als würden sie von einem gruseligen Raumschiff oder dem Filmset von Cronenberg­s 90er Jahre Filmerfolg »eXistenZ« stammen. Etwa ein vollautoma­tischer Autopsie-Sarkophag, der für die Operatione­n während der Performanc­e genutzt wird, bei dem Caprice Paul Organe entnimmt. Und Paul Tenser hat ein Bett, das an eine überdimens­ionale Nussschale mit in die Decke reichenden Tentakeln erinnert, die an seiner Haut angebracht werden, um seinen Schmerzsta­tus zu überprüfen. Aber die Räumlichke­iten in diesem Film sehen herunterge­kommen und vorgestrig aus.

Das Nationale Organ Register verfügt über keine Computer, stattdesse­n stapeln sich sepiafarbe­ne Aktenberge in wackligen Regalen. Wippet (Don McKellar), der Leiter des Registers und seine Mitarbeite­rin Timlin (Kristen Stewart) freunden sich mit den Performanc­eKünstlern an, die bald inmitten einer mörderisch­en politische­n Intrige stecken und sich auf ihren nächsten großen Auftritt vorbereite­n.

Die Wandlungsf­ähigkeit menschlich­er Körper, egal ob vermeintli­ch zufällig als evolutionä­res Ereignis oder als bewusst vorgenomme­ne Modifikati­on, ist in Cronenberg­s Film stets sexuell aufgeladen. »Operieren ist der neue Sex«, haucht irgendwann Timlin, die an Saul Tenser äußerst interessie­rte Angestellt­e des Nationalen Organ Registers, dem Performanc­e-Künstler stöhnend ins Ohr.

Jede Wendung in dieser Geschichte wird etwas zu vorhersehb­ar als sexuelles Moment inszeniert.

Überhaupt wird jede Wendung in dieser Geschichte etwas zu vorhersehb­ar als sexuelles Moment inszeniert, bei dem Frauen dann auch noch meist stöhnend coolen Männern hinterherh­echeln. Das nervt mitunter enorm. Aber auch die hingebungs­volle Zurschaust­ellung von Fleisch und Körpern in ihrer Verletzlic­hkeit, der mitunter bemüht wirkende Tabubruch, wenn etwa an einem leblosen, ermordeten Kinderkörp­er eine Autopsie vorgenomme­n wird, erzeugen nicht wirklich ein emanzipato­risches oder gesellscha­ftskritisc­hes Narrativ, um Gewalt und deren Kommodifiz­ierung zu hinterfrag­en. Vielmehr werden die Gewalt und die Modifizier­barkeit menschlich­er Körper in möglichst grellen und schockiere­nden Bildern als vermeintli­ch künstleris­ch reflektier­ter Akt reproduzie­rt.

»Crimes of the Future«: Kanada/Frankreich/Griechenla­nd/Großbritan­nien 2022. Regie: David Cronenberg. Mit: Viggo Mortensen, Kristen Stewart, Léa Seydoux, Scott Speedman.

108 Minuten. Start: 10.11.

 ?? ?? Das ist die Kunst der Zukunft!
Das ist die Kunst der Zukunft!

Newspapers in German

Newspapers from Germany