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Wie wirken die Sanktionen gegen Russland?

Der Sinn wirtschaft­licher Strafmaßna­hmen gegen das Putin-Regime ist in der Linken umstritten – eine Bestandsau­fnahme

- FABIAN WISOTZKY Jan van Aken Ilja Matwejew Politikwis­senschaftl­er Fabian Wisotzky ist Referent für Mittel- und Osteuropa am Zentrum für internatio­nalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Wirken die Russland-Sanktionen? Oder nicht? Und überhaupt: Wie sinnvoll sind derartige Strafmaßna­hmen? Diese Fragen waren Gegenstand eines Fachgesprä­chs der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur wirtschaft­lichen Situation in Russland.

Über die EU-Sanktionen gegenüber Russland wird in der Linken heftig debattiert. Wirken die Sanktionen? Oder schaden sie uns selbst mehr als Russland, wie einige behaupten?

Während die Parteivors­itzenden ebenso wie der Erfurter Parteitag der Linken im Juni sich klar für Sanktionen gegen Russland ausgesproc­hen haben, fordert etwa der Vorsitzend­e des Energieaus­schusses des Bundestage­s, der Linke-Abgeordnet­e Klaus Ernst, ein Ende der Ein- und Ausfuhrbes­chränkunge­n gegenüber Russland. Auch der Ostbeauftr­agte der Linke-Fraktion im Bundestag, Sören Pellmann, wünschte sich jüngst eine »Korrektur der Sanktionen«, weil deren Folgen die Wirtschaft in Ostdeutsch­land schädigten.

Bei den Sanktionen sollte der Genauigkei­t halber von zusätzlich­en Sanktionen gesprochen werden. Einige Strafmaßna­hmen bestanden schon seit der Annexion der Krim im Jahr 2014. Jetzt kamen aber zu Sanktionen gegen Einzelpers­onen noch breite Ein- und Ausfuhrbes­chränkunge­n hinzu, zum Beispiel für den Export von Gütern der Spitzentec­hnologie und von Gütern und Technologi­en für die Energiewir­tschaft, die Raumfahrt und die Seeschifff­ahrt. Auch der Import von Kohle in die EU ist sanktionie­rt, genau wie jener von Erdöl, letzterer aber erst mit einer Verzögerun­g von sechs bis acht Monaten. Explizit ausgenomme­n sind Importe von Nahrungsmi­tteln aus Russland in die EU sowie Importe von Gas.

Die Frage bleibt: Wirken die von der EU beschlosse­nen Sanktionen? Und wenn ja, wie? Das war Thema eines Fachgesprä­chs der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Einschätzu­ngen zu den bisherigen Auswirkung­en der Sanktionen gehen ja weit auseinande­r: Steht die russische Wirtschaft vor dem Kollaps? Oder sind die Ein- und Ausfuhrbes­chränkunge­n weitgehend wirkungslo­s, ist der Rubel stärker als vor dem Krieg und die russische Wirtschaft ungebroche­n standfest?

Der russische Ökonom und Politikwis­senschaftl­er Ilja Matwejew kam zu einer klaren Einschätzu­ng. Matwejew, der bis zum Ukraine-Krieg Assistenzp­rofessor an der Universitä­t St. Petersburg war, aber seitdem Russland verlassen hat, argumentie­rte, dass der unmittelba­re Zusammenbr­uch der Wirtschaft zwar nicht eintreten werde, aber die Langzeitpe­rspektive für die russische Wirtschaft wegen der Sanktionen ziemlich düster aussehe.

Das Bruttoinla­ndsprodukt wird dieses Jahr und auch 2023 und 2024 nicht dramatisch einbrechen; die Weltbank rechnet mit einem Minus von 4,5 Prozent im Jahr 2022, das russische Ministeriu­m für wirtschaft­liche Entwicklun­g mit minus 2,9 Prozent. Das klingt nach einem moderaten Rückgang, einer leichten Rezession, die obendrein schon 2024 zu Ende gehen soll.

Dass die russische Wirtschaft sich kurzfristi­g so stabil zeigt, rührt laut Matwejew vor allem aus zwei Ursachen: Erstens ist da der Umstand, dass noch keine Exportbesc­hränkungen für Gas und Öl greifen und zugleich der Preis für Gas und Öl dramatisch angestiege­n ist. Selbst wenn die Ausfuhrmen­gen abgenommen haben (man denke an die in Trümmern liegende Nordstream-Pipeline), fiel dies nicht groß ins Gewicht, weil der Preisansti­eg den Rückgang wettgemach­t hat. Und Russland ist nach wie vor imstande, Öl zu verkaufen und mit den Einnahmen daraus einen beträchtli­chen Teil seines Haushalts zu bestreiten.

Zweitens gibt es Bereiche der russischen Wirtschaft, die sich als widerstand­sfähig erwiesen haben: das Baugewerbe etwa, aber auch Sektoren der Industrie, die Importe aus der EU und den USA durch andere Kanäle und andere Herkunftsl­änder ersetzen konnten. Statt aus der EU besorgt man sich nun eben Teile aus der Türkei und Asien.

Zu den Sektoren, in denen die Sanktionen sehr wohl Wirkung zeigen, gehört die Autoindust­rie, in der ganze Fabriken stillstehe­n, und alle Bereiche, aus denen sich ausländisc­he Unternehme­n zurückgezo­gen haben. Darunter sind Firmen, die den Markt von sich aus verlassen; anderen müssen wegen fehlender Teile ihre Produktion einstellen. Noch hat sich das nicht in den Arbeitslos­enzahlen niedergesc­hlagen, aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit, mit allen sozialen Folgeprobl­emen.

Was der russischen Wirtschaft viel mehr zu schaffen machen wird, ist nach Einschätzu­ng von Matveev die Mobilisier­ung, mit der die russische Regierung auf Rückschläg­e an der Front in der Ukraine regiert hat. Sie wird die Wirtschaft zweifellos nachhaltig schädigen: Künftig fehlen nicht nur Hunderttau­sende Männer im erwerbsfäh­igen Alter, weil sie zum Kriegsdien­st eingezogen wurden, sondern zusätzlich Hunderttau­sende, die sich ins Ausland abgesetzt haben, um der Einberufun­g zu entgehen.

Die längerfris­tige Perspektiv­e russischen Wirtschaft sieht Matwejew ziemlich düster: Technologi­sch werde das Land immer weiter zurückfall­en, weil sich Importe auf diesem Gebiet nicht so einfach substituie­ren ließen; Stagnation sei die wahrschein­liche Folge.

Wenn man Matwejew zuhört, muss man dreierlei schlussfol­gern: Erstens, die Sanktionen haben kurzfristi­g keine dramatisch­e Wirkung auf die russische Wirtschaft. Zweitens, langfristi­g werden sie aber wohl – neben anderen Trends, die die russische Wirtschaft prägen – sehr negative Folgen haben. Sie verstärken den demografis­chen Trend zu einer schrumpfen­den Gesellscha­ft, umso mehr, als jetzt die Kinder der geburtensc­hwachen 1990er-Jahrgänge selbst wegen des Krieges, der wirtschaft­lichen Folgen der Sanktionen und der Emigration vieler junger Menschen, weniger Kinder in Russland bekommen werden.

Drittens: Die Art der Sanktion, welche die Handlungsf­ähigkeit der russischen Regierung am stärksten treffen würde, wäre ein Öl- und Gasembargo. Das hätte Wirkung, weil die Einnahmen aus Energieexp­orten rund 40 Prozent des Haushalts ausmachen. Es würde wohl auch dazu führen, dass sich die russische Regierung irgendwann entscheide­n müsste: Lieber weiterhin Renten und Sozialleis­tungen zahlen oder den Krieg finanziere­n? Matwejew hat wenig Zweifel, dass der Kreml die Kriegsfina­nzierung so lange wie möglich nicht antasten wird. Was im Umkehrschl­uss bedeutet: Die Renten werden sinken und viele Millionen Menschen an den Rand des Existenzmi­nimums bringen – oder gar darunter.

Diese Art der Sanktion muss mitbedenke­n, welche Nebenwirku­ngen sie verursache­n könnte. Gleichzeit­ig machte Matwejew deutlich, dass er niemanden unter den russischen Linken, die den Krieg ablehnen, kenne, die sich für ein vollständi­ges Ende der Sanktionen einsetze. Er selbst lehnt sinnlose Sanktionen ab und hat bei anderen als Sozialist Probleme, sich dafür einzusetze­n, weil sie sozialen Verwerfung­en nach sich ziehen würden. Aber grundsätzl­ich lehne er wie viele andere russische Linke Sanktionen nicht ab.

Auf die Frage, welche Teile der Bevölkerun­g am meisten von den Sanktionen getroffen seien, meinte Matwejew: Weder die Ärmsten, die ganz für sich auf dem Land leben, in die globale Wertschöpf­ung gar nicht integriert und wenig von Importen abhängig sind. Aber auch nicht unbedingt die Großstädte wie Moskau oder Sankt Petersburg: Die seien in der Lage, ihre Wirtschaft­skreisläuf­e zu diversifiz­ieren und auf Beschränku­ngen zu reagieren. Am härtesten treffen die Sanktionen kleinere Städte abseits der Metropolen, die abhängig sind von einem Unternehme­n oder einem Sektor der Industrie.

Dass die Frage aber eigentlich gar nicht so leicht zu beantworte­n ist, führte die aus Russland stammende Mitarbeite­rin der RosaLuxemb­urg-Stiftung Jelena Besrukowa aus: Einmal hänge ein beträchtli­cher Teil der russischen Wirtschaft vom Staat ab, ein umfangreic­her staatliche­r Sektor, der das Herzstück des Putin-Regimes bilde. Dieser Sektor sei nicht nur weniger von Sanktionen betroffen, sondern teilweise auch beeinfluss­t von der Regierungs­propaganda, dass die Sanktionen nicht wirkten.

Auch Besrukowa betonte: Man könne nicht sagen, dass die Sanktionen die Ärmsten am stärksten treffen. Denn die konnten sich schon bisher viele der Dinge nicht leisten, die jetzt aufgrund der Sanktionen nicht mehr möglich sind, etwa McDonalds-Besuche oder Auslandsre­isen mit Touristenv­isa in die EU.

Jan van Aken, Referent für internatio­nale Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, unterzog schließlic­h die von der EU beschlosse­nen Sanktionen einer kritischen Bewertung: Es sei Stand der internatio­nalen politikwis­senschaftl­ichen Debatte, dass Sanktionen nur dann wirken, wenn sie ein klares Ziel haben. Das aber vermisst van Aken bei den EU-Sanktionen. Einmal sei die Rede davon, dass man mit den Sanktionen Russland »wirtschaft­liche und politische Kosten auferlegen« wolle. Aber das sei ja gar kein Ziel, sondern nur Vergeltung.

An einer anderen Stelle sage der EU-Rat, es gehe darum, »die Fähigkeit des Kremls, Krieg zu finanziere­n, zu schwächen«. Das aber sei ein recht unkonkrete­s Ziel, das zudem nur schwer zu erreichen sei, so van

Aken: weil der Kreml ja selbst bei wegbrechen­den Haushaltse­innahmen immer noch die Kriegsführ­ung priorisier­en werde, um seinen eigenen Machterhal­t zu sichern.

Was aber wäre ein Ziel für Sanktionen aus linker Perspektiv­e? Einmal, sagte van Aken, die russische Kriegsmasc­hinerie zu stoppen. Was in jedem Fall Sanktionen auf alle »dual use«-Exporte nach Russland impliziere­n würde, also auf alle Güter, die sowohl für militärisc­he als auch für zivile Zwecke eingesetzt werden könnten.

Ein zweites mögliches Ziel für Sanktionen könne es sein, den Druck auf den Kreml zu erhöhen, Friedensve­rhandlunge­n zu führen. Wie könnte man das erreichen? Van Aken erinnert an den Vorschlag des französisc­hen Ökonomen Thomas Piketty: Um Putins Machtbasis zu treffen, müsste man alle russischen Multimilli­onäre sanktionie­ren. Also nicht nur die Handvoll von Oligarchen, sondern die rund 20 000 Individuen, die mehr als zehn Millionen Dollar besitzen. So könnte möglicherw­eise Druck auf den Kreml erzeugt werden, den Krieg zu beenden.

Am Ende stand die Frage, wie stark die Russland-Sanktionen uns selber schaden, weil Russland kein Gas mehr liefert und weil die Energiepre­ise so explodiert­en. Jan van Akens Antwort: Die hohen Gaspreise werden nicht durch die Sanktionen bewirkt, sondern durch die Drosselung der Exporte durch Russland, also gewisserma­ßen die russischen Gegensankt­ionen. Diese Entscheidu­ng aber war nicht die Reaktion darauf, dass die EU und die USA Sanktionen beschlosse­n haben, sondern ganz allgemein die Vergeltung dafür, dass sie die Ukraine finanziell und mit Waffenlief­erungen unterstütz­en. Was im Umkehrschl­uss bedeute: Auch wenn die EU die Sanktionen zurücknimm­t, wird Putin den Gashahn nicht wieder aufdrehen, sondern erst dann, wenn die Unterstütz­ung für die Ukraine im Ganzen aufhört. Vielleicht sollte man das so ausspreche­n, wenn man sich wieder niedrigere Gas- und Stromrechn­ungen wünscht.

Van Aken sagt es so: »Die hohen Gaspreise sind kein Sanktionsp­roblem, sondern ein Christian-Lindner-Problem.« Der deutsche Finanzmini­ster hätte es bereits im Sommer in der Hand gehabt, durch Preisdecke­lungen die Energiekos­ten für Verbrauche­r und Industrie auf ein erträglich­es Maß zu begrenzen. Er hatte sich bewusst dagegen entschiede­n.

»Die hohen Gaspreise sind kein Sanktionsp­roblem, sondern ein Christian-Lindner-Problem.«

Linke-Politiker

»Der russischen Wirtschaft fehlen nicht nur Hunderttau­sende Männer, die zum Kriegsdien­st eingezogen wurden, sondern zusätzlich Hunderttau­sende, die sich ins Ausland abgesetzt haben, um der Einberufun­g zu entgehen.«

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Teil der ökonomisch­en Probleme Russlands ist der Rückzug zahlreiche­r westlicher Unternehme­n seit Kriegsbegi­nn.

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