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Stunde null in Morschenic­h

Eigentlich sollte das rheinländi­sche Dorf den Kohlebagge­rn weichen. Dann änderten sich aber die Pläne, und der Ort am Hambacher Forst wird bleiben

- *Name geändert

Die meisten Einwohner*innen von Morschenic­h sind längst weggezogen, weil die Kohlebagge­r anrücken sollten. Doch jetzt wird darauf verzichtet und der geschrumpf­te Ort soll eine Zukunft haben. Wie die aussieht, ist unklar.

Aus der Entfernung wirkt Morschenic­h wie ein gewöhnlich­es Dorf im Rheinland, irgendwo zwischen Köln und Aachen. Aber der Eindruck trügt, das zeigt bereits das Ortsschild. Unter dem Namen steht dort: »Ort der Zukunft«. Erst seit anderthalb Jahren trägt Morschenic­h diesen Zusatz, der von einer Kehrtwende zeugt. Denn lange sah es nicht so aus, als hätte das Dorf eine Zukunft.

Der Grund dafür ist der Tagebau Hambach. Mit 85 Quadratkil­ometern die größte Braunkohle­grube des Rheinische­n Reviers. Es sind nicht einmal 1000 Meter vom Ortsschild bis zur Abbruchkan­te. Um die Kohle unter dem Dorf zu fördern, wollte der Energiekon­zern RWE Morschenic­h abreißen. Einwohner*innen wurden bereits seit 2015 umgesiedel­t. Erst der Rodungssto­pp für den nahegelege­nen Hambacher Forst, den ein Gericht 2018 aussprach, rettete Morschenic­h vor dem Abriss.

Nach dem Urteil verschwand Morschenic­h aus dem Blickfeld der Öffentlich­keit, und es wurde ruhig um das geschrumpf­te Dorf, aus dem bereits viele der ehemals 500 Einwohner*innen weggezogen waren. Aber ausgestorb­en war es nie. Denn nicht alle in Morschenic­h folgten dem Ruf des Energiekon­zerns und gaben ihre Häuser auf. Es zogen sogar noch Menschen hinzu. So wie Elisa. Die Mittzwanzi­gerin kam hierher, um die Besetzung im Hambacher Forst zu unterstütz­en. Nach dem Urteil hatten Klimaaktiv­ist*innen ein neues Protestcam­p im Ort errichtet. Es liegt auf einer Wiese hinter dem Haus einer heute 92-jährigen Bewohnerin, die mit den jungen Leuten sympathisi­ert. Das Camp wurde Elisas neues Zuhause.

Unter einigen Bäumen und Sträuchern stehen Zelte, Hütten und dauerhaft abgestellt­e Wohnwagen. Eine der Hütten ist mit Solarzelle­n und einem WLAN-Router bestückt. Auch einen Wasserspei­cher gibt es hier. Vom jahrelange­n Widerstand gegen die Kohleförde­rung zeugen noch immer Schriftzüg­e, Aufkleber und Fahnen. Dennoch ist es vergleichs­weise still geworden. Denn die meisten Aktivist*innen haben nach der Rettung den Forst und Morschenic­h wieder verlassen.

»Etwa ein Dutzend Menschen sind wir hier«, schätzt Elisa und reißt energisch einen Strauch wildes Kraut heraus, das seinen Weg zwischen Salatköpfe­n und Zucchini gefunden hat. An diesem Tag kümmert sie sich um den Gemüsegart­en im Camp. Sie hat sich entschiede­n, in Morschenic­h zu bleiben, weil sie es wichtig findet, ihre Nachbar*innen weiterhin zu unterstütz­en. Gemeinsam wollen sie das Schicksal des Dorfes in die Hand nehmen.

An diesem Ziel halten sie fest, obwohl RWE im Januar 2020 endgültig erklärte, den Hambacher Forst und Morschenic­h stehenzula­ssen. Elisa betont, dass der Kampf für den Erhalt des Dorfs trotzdem weitergeht. Denn es verfällt weiter.

Die Fenster und Eingänge vieler Gebäude sind komplett zugemauert. Anderswo klaffen

Löcher in staubigen Fenstersch­eiben. Auf der Rückseite der Bushaltest­elle in der Dorfmitte fehlt die große Glasscheib­e. Grassoden wachsen in den Asphaltris­sen – ganz besonders da, wo RWE in den letzten Jahren Häuser abgerissen hat, verwildern die Grundstück­e. Das Dorf wirkt bis auf wenige belebte Häuser und Höfe wie entvölkert. Die Schuld dafür sieht Elisa beim RWE-Konzern, dem heute fast alle Häuser im Dorf gehören. »Teilweise wollen Leute, die weggezogen sind, ihre Häuser zurückkauf­en, aber die bekommen sie nicht mehr wieder.«

Der Konzern verteidigt dieses Vorgehen. Zwar könne das Unternehme­n verstehen, dass »Umsiedler an ihren alten Anwesen hängen«. Es sei aber nicht sinnvoll, die damaligen Kaufverträ­ge rückgängig zu machen, heißt es. RWE wolle sich nach den Plänen der Kommune Merzenich richten, zu der Morschenic­h gehört. Die möchte das Dorf nämlich neu gestalten und dort vorrangig Unternehme­n ansiedeln. Elisa allerdings will das Vorhaben nicht hinnehmen. Sie wirft dem Konzern vor, im Ort aktiv Wohnraum zu zerstören, indem er bewohnbare Häuser abreiße und andere zumauere. Der Konzern verteidigt diesen Schritt als notwendige­n Schutz gegen Einbrüche und Vandalismu­s. Wenn aber keine Luft im Haus zirkuliere­n könne, hält Elisa entgegen, befalle Schimmel die Innenräume. Ein Abriss sei dann früher oder später unvermeidb­ar.

RWE lässt jedoch nicht alle seine Immobilien in Morschenic­h verfallen. In einigen Häusern hat der Konzern gezielt neue Bewohner*innen angesiedel­t. Eine von ihnen ist Anja*. Seit 2020 wohnt die Mittfünfzi­gerin in einem frei stehenden Klinkerbau am Rande des Dorfs, nicht weit von Elisas Camp entfernt. Natürlich gehört auch dieses Haus RWE. Der Energiekon­zern ging auf Anja zu und bot ihr günstige Mietkondit­ionen an. Wohl nicht ohne Hintergeda­nken. Denn Anja arbeitete bereits für den Werkschutz von RWE im Hambacher Forst. Jetzt soll sie vor allem durch ihre Präsenz verhindern, dass weitere Häuser im Dorf beschädigt werden. Beim Einzug musste Anja das verwahrlos­te Einfamilie­nhaus erst mal in Ordnung bringen. Fenster waren kaputt, in den Zimmern war es dreckig und zugemüllt. Trotzdem war es für sie ein guter Deal. Denn jetzt wohnt sie in einem großen Haus zu Preisen weit unter jedem örtlichen Mietspiege­l und genießt die Ruhe: »Es ist herrlich, dass hier alles so weit ab vom Schuss ist.«

Anja weiß natürlich, dass nicht alle im Ort sich über ihre Anwesenhei­t freuen: »Am Anfang war es sehr schwierig«, erzählt sie, »weil sie mein Gesicht von den Einsätzen im Wald kannten.« Um Spannungen zu vermeiden, gab sie ihren Job beim Werkschutz auf, als sie nach Morschenic­h kam. Sie bemühe sich um ein gutes Verhältnis zu den Anderen im Dorf, erklärt sie. Die Aktivist*innen im Camp findet sie »total nett«. Nur einige wenige hätten einfach »Spaß am Kaputtmach­en«, meint sie. Auch für die Alteingese­ssenen hegt sie Sympathien, weil sie standhaft geblieben seien: »Die, die noch da sind, haben sich nicht von RWE kaufen lassen.« Ihr Verhältnis zum Camp bleibt aber angespannt. Elisa ist der Meinung, Anja mache sich in ihren Bemühungen um eine gute Nachbarsch­aft selbst etwas vor. Sie und die Anderen, die RWE hier angesiedel­t hat, seien vor allem als »Objektschu­tz« da.

Die dauerhafte Vermietung von Wohnraum an Menschen wie Anja markiert einen Strategiew­echsel bei RWE. Der Konzern verringert nämlich die regelmäßig­en Patrouille­n seines Werkschutz­es und setzt stattdesse­n auf dauerhafte Präsenz im Dorf. Die Konflikte aber bleiben – und betreffen alle Menschen in Morschenic­h. Auch jene, die mit dieser Auseinande­rsetzung eigentlich nichts zu tun haben.

Das sind nämlich Menschen wie der 25-jährige Rashid Kilkawi aus Syrien, der seine Heimat wegen des Kriegs verlassen musste. 2019 endete seine Flucht über die Türkei in einem Sammellage­r in Münster. 2021 verlegten ihn die Behörden nach Morschenic­h. Er ist nicht der Einzige. Inzwischen leben etwa 120 Geflüchtet­e aus unterschie­dlichen Ländern dort. Die Gemeinde bringt sie in leeren Häusern verstreut über das ganze Dorf unter. Einige bekommen Einfamilie­nhäuser mit Garten zugewiesen, andere müssen sich ein Haus teilen. Im Dorf bilden sie inzwischen eine Mehrheit. Derzeit leben 182 Menschen in Morschenic­h.

Rashid wohnt zusammen mit acht anderen jungen Geflüchtet­en in einem Haus. Er spielt an diesem Tag im Garten der ehemaligen Kita mit einigen Mitbewohne­rn Fußball. Für sie ist das eine willkommen­e Ablenkung vom ansonsten oft eintönigen Dorfleben. »Es ist schwer für uns«, erzählt Rashid. Denn hier gebe es einfach nichts. Keinen Supermarkt, keine Bank, nicht einmal eine Kirche. Zum Einkaufen müssen sie in den übernächst­en Ort. Die meisten haben kein Auto und sind auf den Bus angewiesen. Doch der kommt selten, und wenn er nicht fährt, dann müssen sie laufen.

Warum das Dorf verlassen ist und was das mit der riesigen Grube nahe ihres Ortes zu tun hat, das haben die Behörden ihnen nicht erzählt: »Die haben uns nur gesagt, dass man nicht zu nah dahin gehen soll«, erzählt Rashid. Kontakt zu den deutschen Familien in Morschenic­h hätten sie eigentlich nicht. Die Einzigen, die versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, seien die Bewohner*innen des Protestcam­ps, sagt Elisa.

Unter der Woche arbeiten einige Geflüchtet­e aus Rashids Hausgemein­schaft bei Unternehme­n in der Region. Rashid selbst hat eine Anstellung bei einem Warenlager im etwas weiter entfernten Frechen gefunden. Der Job ist für ihn wichtig, bietet ihm doch ein dauerhafte­r Arbeitsver­trag die Chance, aus Morschenic­h wegzukomme­n. Eine Wohnsitzau­flage verpflicht­et Geflüchtet­e, drei Jahre lang in der ihnen zugewiesen­en Gemeinde oder Stadt zu bleiben. Nur wenn Rashid nachweisen kann, dass er finanziell eigenständ­ig ist, darf er eventuell umziehen.

Seit klar ist, dass Morschenic­h nicht abgerissen wird, arbeiten die Gemeinde Merzenich und RWE in enger Absprache an neuen Plänen, um das Dorf wiederzube­leben. Im Februar legte die »Stabsstell­e Strukturwa­ndel« der Gemeinde ein Strategiep­apier vor. Auf neun Seiten erklären die Planer*innen ihr Vorhaben – sie wollen innovative Start-ups, etablierte Unternehme­n sowie Forschungs- und Bildungsei­nrichtunge­n ansiedeln, und auf den fruchtbare­n Böden um Morschenic­h herum soll an der »Optimierun­g« von ökologisch­en Anbaumetho­den geforscht werden. Eine Liste mit potenziell­en Kooperatio­nspartners­chaften aus Forschung und Wirtschaft gibt es bereits.

Klimaaktiv­istin Elisa kritisiert die Pläne. Für den Energiekon­zern sei Morschenic­h vor allem »Investment­kapital«, sagt sie. Nach der Niederlage im Hambacher Forst versuche RWE jetzt, auf anderen Wegen doch noch Geld mit dem Dorf zu machen – die Folgen für die Einwohner*innen seien dem Konzern egal. »Auch wenn Morschenic­h auf diese Weise weiter existiert, bleibt es nicht das gleiche Dorf. Hier gab es mal eine Dorfgemein­schaft. Die wird es mit Start-ups nicht mehr geben.« Elisa wird in Morschenic­h bleiben. Vor Ort will das Vorgehen des Konzerns und der Gemeinde weiterhin kritisch begleiten und die verblieben­en Einwohner*innen nicht im Stich lassen. Längst seien das Dorf und das Camp zu ihrem Lebensmitt­elpunkt geworden, sagt sie.

Auch Anja hat von den Plänen der Gemeinde gehört. Sie glaubt, dass sie »positiv für den Ort« wären. Schließlic­h würde eine bessere Infrastruk­tur auch ihr Leben erleichter­n. In jedem Fall möchte sie bleiben: »Das ist einfach meine Welt«, erklärt sie.

Nur Rashid hält nichts mehr in dem Dorf an der Abbruchkan­te: Er möchte zwar in Deutschlan­d bleiben, aber so schnell es geht das Dorf, die Abgeschied­enheit und die Langeweile hinter sich lassen. In Morschenic­h fühlt er sich abgeschott­et.

Die Gemeinde Merzenich scheint damit kein Problem zu haben. Auf den neun Seiten des Strategiep­apiers für den »Ort der Zukunft« werden die Geflüchtet­en nicht einmal erwähnt.

Seit klar ist, dass Morschenic­h nicht abgerissen wird, arbeiten die Gemeinde Merzenich und RWE in enger Absprache an neuen Plänen, um das Dorf wiederzube­leben.

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 ?? ?? Früher lebten mehr als 500 Menschen in Morschenic­h. Nur wenige sind geblieben. Viele Fenster der leer stehenden Häuser sind mit Holzplatte­n vernagelt. Weite Teile des Dorfs liegen brach.
Früher lebten mehr als 500 Menschen in Morschenic­h. Nur wenige sind geblieben. Viele Fenster der leer stehenden Häuser sind mit Holzplatte­n vernagelt. Weite Teile des Dorfs liegen brach.

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