nd.DerTag

Viel Kampf und wenig Hoffnung

Sierra Leoner protestier­en seit einem Jahr in München. Noch immer haben sie keine Bleibepers­pektive

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Geflüchtet­e aus Sierra Leone demonstrie­ren dafür, in Deutschlan­d leben und arbeiten zu dürfen. Das wird ihnen von den Behörden weiterhin verwehrt, obwohl sich manche von ihnen schon seit Jahren hierzuland­e aufhalten.

Es ist die längste Dauermahnw­ache in der Geschichte Münchens: Seit mehr als einem Jahr protestier­en sierra-leonische Geflüchtet­e in der bayerische­n Landeshaup­tstadt. Sie kämpfen gegen Abschiebun­gen und dafür, endlich Bleibepers­pektiven zu bekommen. »Wir dürfen nicht arbeiten und keine Ausbildung machen«, sagt Umar Barry, einer der Protestier­enden. Die meisten Geflüchtet­en seien schon seit über fünf Jahren in Deutschlan­d und versuchten, sich zu integriere­n und an der Gesellscha­ft teilzuhabe­n. »Wir haben ein Leben«, erklärt Barry, »aber wir dürfen es nicht leben.«

Der Protest hatte im Oktober vergangene­n Jahres begonnen. Damals mussten etwa 300 sierra-leonische Geflüchtet­e aus ganz Bayern zur Zentralen Ausländerb­ehörde in München-Obersendli­ng kommen. In Anhörungen vor einer sierra-leonischen Delegation sollte ihre jeweilige Identität zweifelsfr­ei geklärt werden, damit ihnen Heimreised­okumente ausgestell­t werden können. Denn die Sierra Leoner*innen sind in Deutschlan­d nur geduldet. Ihre Fluchtgrün­de werden von der Bundesrepu­blik nicht anerkannt. Deshalb wurden ihre Asylanträg­e abgelehnt.

Die Geflüchtet­en sind also gezwungen, Deutschlan­d zu verlassen. Eigentlich. Doch weil sie keine Reisepässe haben, können die deutschen Behörden sie nicht abschieben. Durch die Anhörungen könnte sich das ändern. Das war zumindest die Hoffnung des bayerische­n Landesamts für Asyl und Rückführun­gen – und gleichzeit­ig die Furcht der Geflüchtet­en.

»Wir hatten alle Angst und wussten nicht, was wir in dieser Situation machen sollen«, erinnert sich Umar Barry. Also schlossen sich die Sierra Leoner*innen zusammen. Sie campierten erst vor der Ausländerb­ehörde und danach an unterschie­dlichen anderen Plätzen Münchens, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Seit mehr als acht Monaten haben sie ihre Zelte auf dem Georg-Freundorfe­r-Platz im Stadtteil Schwanthal­erhöhe, auch Westend genannt, aufgeschla­gen. Hier kommen sie in Kontakt mit Anwohner*innen und erfahren viel Unterstütz­ung, etwa von zwei Kirchen in der Nähe, in denen sie schlafen, duschen und Essen zubereiten können. »Uns war es wichtig, nicht zu sagen: Wir bekochen die Sierra Leoner«, erzählt Sibylle Stöhr (Grüne), die Vorsitzend­e des Bezirksaus­schusses Schwanthal­erhöhe. Vielmehr habe man gewollt, dass die Geflüchtet­en selbst agieren können. »Das ist mit das Wichtigste: Dass sie aus der Rolle, alles erdulden zu müssen, in eine handelnde Rolle kommen.«

Selbst handeln und sich um die eigene Zukunft kümmern – gerne würden die Geflüchtet­en das tun. Doch sie stecken in einem Dilemma: Ohne Reisepass haben sie häufig keine Chance, eine Ausbildung anzufangen oder eine Arbeitserl­aubnis zu bekommen. Doch mit Reisepass kann ihnen die Abschiebun­g drohen. »Das sind alles junge Leute – wenn die hier geboren wären, hätten sie einen Ausbildung­s- oder Studienpla­tz«, sagt Stöhr. »Ich finde es so dramatisch, dass ihnen das verwehrt wird.«

Konnte ein Jahr Protestcam­p etwas an der Situation der Geflüchtet­en ändern? Nadine Kriebel vom Bayerische­n Flüchtling­srat erklärt, dass sich auf der politische­n Ebene nicht viel getan habe. Dennoch ist das Protestcam­p in ihren Augen ein Erfolg. Durch die Vernetzung mit anderen Geflüchtet­en und mit Unterstütz­er*innen, so Kriebels Eindruck, hätten viele Sierra Leoner*innen das Gefühl von Selbstwirk­samkeit wiedererla­ngt. »Die Verwurzelu­ng im Westend gibt den Leuten Empowermen­t.« Das sei schon etwas anderes, als in einem Dorf in Niederbaye­rn in einer Sammelunte­rkunft zu sitzen und nichts tun zu können, sagt Kriebel.

Deshalb wünschen sich viele Geflüchtet­e, die eigentlich in niederbayr­ischen Heimen leben, durch das Protestcam­p aber Anschluss in München gefunden haben, in die Landeshaup­tstadt umziehen zu dürfen. Hier haben sie bessere Chancen, Sprachkurs­e zu absolviere­n, medizinisc­he Betreuung zu erhalten, Arbeits- oder Ausbildung­splätze zu finden und sich mit Unterstüzt­er*innen und Leidensgen­oss*innen auszutausc­hen.

Die Umzugserla­ubnis ist daher eine der zentralen Forderunge­n von Protestier­enden und Lokalpolit­iker*innen. Nadine Kriebel sagt: »Am besten wäre es, den Leuten den Zugang zu Arbeit und Deutschkur­sen zu ermögliche­n, unabhängig von ihrem Aufenthalt­sstatus.« Denn nur so könnten sie Teil der Gesellscha­ft werden, in der sie ohnehin schon leben.

Und in der sie vermutlich auch weiterhin leben werden. »Wir kennen keine Fälle, wo aufgrund der Anhörung abgeschobe­n wurde«, sagt Kriebel. Dass auch über ein Jahr nach den Anhörungen im Oktober 2021 nichts passiert sei, zeige, dass Sierra Leone nicht so kooperiere, wie es von bayerische­r Seite möglicherw­eise gewünscht gewesen sei. »Die sierra-leonische Regierung hat kein besonders großes Interesse daran, dass die Leute zurückkomm­en«, erklärt Kriebel.

Dennoch ist die Situation der Sierra Leoner*innen in Bayern prekär: Realistisc­he Bleibepers­pektiven gibt es laut Kriebel bislang nur in Einzelfäll­en. Der Protest der Geflüchtet­en geht deshalb weiter. Am 19. November wollen sie bei einer Demonstrat­ion erneut ihre Forderunge­n stellen.

Wie es mit dem Camp weitergeht, ist noch unklar. Angemeldet ist es nach Angaben des Münchner Kreisverwa­ltungsrefe­rats derzeit bis Ende November. Um den Status als Dauermahnw­ache zu erhalten, muss allerdings durchgehen­d jemand vor Ort sein – eine hohe Hürde für den bevorstehe­nden Winter. Doch die Teilhabe an der Gesellscha­ft, die sie im Münchner Westend erfahren, wollen die Geflüchtet­en nach Kriebels Eindruck nicht aufgeben, sondern erhalten. »Die Frage ist nur, wie.«

Dass die 30 bis 50 Sierra Leoner*innen, die sich im Camp einbringen, bald wieder ihre eigenen Wege gehen, dürfte also unwahrsche­inlich sein. »Es ist besser, zu kämpfen und vielleicht zu verlieren«, sagt Umar Barry, »als nur hier zu sitzen und trotzdem zu verlieren.«

»Das sind alles junge Leute – wenn die hier geboren wären, hätten sie einen Ausbildung­soder Studienpla­tz.«

Sibylle Stöhr Grüne

 ?? ?? Demonstrat­ion vor einem Jahr in München gegen Abschiebun­gen nach Sierra Leone
Demonstrat­ion vor einem Jahr in München gegen Abschiebun­gen nach Sierra Leone

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