nd.DerTag

Cherson vor kampfloser Einnahme

Russische Truppen verlassen strategisc­h wichtige Stadt im Süden der Ukraine

- RENÉ HEILIG

Russische Truppen ziehen sich vom rechten Ufer des Flusses Dnipro zurück. Ein Zeichen der Schwäche, der taktischen Vernunft oder Teil eines Waffenstil­lstandspla­ns?

Russlands Präsident Wladimir Putin besuchte am Donnerstag eine neurochiru­rgische Forschungs­einrichtun­g in Moskau. Dabei sah er zu, wie Ärzte versuchten, per High-Tech-Operation Fehlfunkti­onen im Gehirn zu korrigiere­n. Wer mag, kann aus dieser Mitteilung des Kreml Symbolisch­es herauslese­n. Sie sollte womöglich zeigen, dass der Präsident »so gar nichts« mit jener Operation zu tun hat, die Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu in gleicher Stunde verkündete. Er beriet mit dem Chef der Angriffstr­uppen, General Sergej Surowikin, und weiteren Spitzenmil­itärs, wie sich die Truppen im Raum Cherson rasch und verlustarm vom westlichen Ufer des Flusses Dnipro zurückzieh­en könnten. Schoigu behauptete – sehr zum Erstaunen von Experten: »Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation haben immer Priorität.« Das russische Fernsehen und andere Staatsmedi­en berichtete­n aus der Besprechun­g relativ ausführlic­h, was alles andere als üblich ist.

»Ich habe vorausgesa­gt, dass es keinen anderen Ausweg für die Invasoren geben würde.«

Cherson ist die einzige Gebietshau­ptstadt, die Russland in seiner »Spezialope­ration« erobern konnte. Die gesamte Region ist von strategisc­h großer Bedeutung, weil sie an die 2014 von Moskau annektiert­e ukrainisch­e Halbinsel Krim grenzt. Russlands Truppen hatten das Gebiet in den ersten Kriegswoch­en weitgehend besetzt und im September – ebenso wie die Regionen Saporischs­chja, Luhansk und Donezk – völkerrech­tswidrig annektiert. Neben der militärisc­hen Bedeutung steht eine propagandi­stische. Die Bürger von Cherson, so betonte Putin, seien Russen und blieben Russen – für alle Zeit. Endet diese nun? Seltsam!

General Surowikin, der erst Anfang Oktober zum Chef der Invasionst­ruppen bestellt worden war, deutete bereits vor Wochen an, dass bei Cherson, in dem vor dem Krieg 290000 Einwohnern lebten, eine »schwierige Entscheidu­ng« anstehe. Beobachter werteten das damals bereits als Indiz für einen geplanten Abzug, doch viele ukrainisch­e Experten witterten dahinter nur eine Kriegslist.

Dann jedoch evakuierte­n die russischen Besatzungs­behörden rund 115 000 Menschen, die Ukraine sprach von Verschlepp­ung.

Der Kreml erleide im Angriffskr­ieg gegen die Ukraine einen weiteren schweren Rückschlag, liest man. Putins Truppe sei insgesamt am Ende. So lauten erste Bewertunge­n des Rückzugsbe­fehls. Sie stützen sich auf ukrainisch­e Propaganda. Kiew hatte stets betont, dass man die Stadt und das Gebiet mit Hilfe westlicher Waffen befreien werde.

Serhij Khlan, Vizechef des ukrainisch­en Regionalra­ts Cherson, schrieb am Mittwoch bei Facebook: »Ich habe vorausgesa­gt, dass es keinen anderen Ausweg für die Invasoren geben würde. (…) Nun, Freunde, zählt die Tage, bis wir uns in Cherson treffen!« Nichts mehr schreiben kann dagegen Kirill Stremussow. Auch er war Vizechef der Region – als eifriger Parteigäng­er der Besatzungs­macht. Ende Oktober noch hatte Stremussow angekündig­t, dass Cherson zur »Festung ausgebaut« werde. Nun wurde ihm – so heißt es – ein Autounfall zum Verhängnis.

Es gibt Zufälle. Im Falle von Cherson sind es einige zu viel. Es ist schon seltsam, dass Tschetsche­nen-Führer Ramsan Kadyrow, einer der größten Scharfmach­er im russischen Angriffskr­ieg, sofort Unterstütz­ung für Surowikins

Rückzugsbe­fehl signalisie­rte. Auch Jewgeni Prigoschin, Gründer der WagnerSöld­ner-Truppe, lobte die Entscheidu­ng, ebenso der Generalsek­retär der Partei »Einiges Russland«, Andrej Turtschak. Außenamtss­precherin Maria Sacharowa bot Kiew zeitgleich Gespräche »auf Grundlage der aktuellen Realitäten« an. Das alles klingt nach einem abgestimmt­en Plan, der weit über das militärisc­h Sinnvolle hinausgeht. Er ist brisant und womöglich ist das auch der Grund dafür, dass sich Putin nicht aus Moskau wegbewegt. Beim G-20-Gipfel in Indonesien lässt er sich durch Außenminis­ter Sergej Lawrow vertreten.

Alles nur eine »neue Nebelkerze«, meint dagegen der ukrainisch­e Außenamtss­precher Oleh Nikolenko auf Facebook. Moskau unterbreit­e immer dann Gesprächsa­ngebote, »wenn die russischen Truppen Niederlage­n auf dem Schlachtfe­ld erleiden«. Kiew fordert als Vorleistun­g für Verhandlun­gen – worüber auch immer – den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine, auch von der Halbinsel Krim.

Selbstvers­tändlich könnte hinter dem Rückzug lediglich die Absicht der russischen Militärs stecken, Fehler der ersten Angriffsop­erationen zu korrigiere­n und durch eine

Frontverkü­rzung bessere Bedingunge­n für das Überwinter­n zu schaffen. Tatsache ist, dass die bevorstehe­nde kampflose Einnahme von Cherson durch ukrainisch­e Streitkräf­te eine enorme Bedeutung für eine dauerhafte Verteidigu­ng von Mykolajew, Odessa sowie den Schutz der gesamten ukrainisch­en Schwarzmee­rküste ist. Sicher ist auch, dass eine ukrainisch­e Flagge über Cherson die Kampfmoral der ukrainisch­en Truppen hebt und den Westen in seiner Unterstütz­ung bestärkt. Ergebnis: Verhandlun­gen könnten noch schwierige­r werden – es sei denn, es steht ein Plan für einen Waffenstil­lstand dahinter, den die USA und Russland entwickelt haben. Seit Wochen hört man von geheimen Gesprächen zwischen Beamten aus Washington und Moskau. Aus Kiew tönte darüber Unmut.

Ein Blick auf die Karte lässt tatsächlic­h eine mögliche natürliche Waffenstil­lstandslin­ie entlang des Dnipro erkennen. Voraussetz­ung: Die russischen Truppen räumen das gesamte okkupierte Westufer und Kiews Soldaten versuchen nicht den Fluss zu überqueren, um in Richtung Krim vorzustoße­n. Bis es einen in Kiew und Moskau akzeptiert­en tragfähige­n politische­n Plan gibt, wird Cherson zu einer weitgehend leeren »Geistersta­dt«.

Serhij Khlan Vizechef des ukrainisch­en Regionalra­ts Cherson

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Nicht alle Einwohner haben Cherson verlassen, nun hat die russische Armee ihren Rückzug aus der besetzten Stadt angekündig­t.

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