nd.DerTag

Innenminis­ter Grande-Marlaska in Not

Massaker an Migranten wurde vor allem auf spanischem Boden in Melilla verübt

- RALF STRECK, SAN SEBASTIÁN

Der Versuch von 1700 Migranten, die spanische Exklave Melilla zu erreichen, endete für mindestens 23 Menschen im Juni tödlich. Gegen die spanischen Behörden gibt es neue Vorwürfe.

Die spanische Regierung kommt nach den tödlichen Vorgängen am Grenzzaun zur Exklave Melilla am 24. Juni schwer unter Druck, allen voran Innenminis­ter Fernando GrandeMarl­aska. Grund ist eine Reportage, die die britische BBC unter dem Titel »Death on the Border« vergangene Woche ausgestrah­lt hat. Darin wurde deutlich, dass es Grande-Marlaska mit der Wahrheit über die Vorgänge am Grenzzaun zu Marokko nicht sehr genau genommen hat. Nach offizielle­n marokkanis­chen Angaben verloren dabei 23 Einwandere­r und Flüchtling­e das Leben. Nichtregie­rungsorgan­isationen wie Walking Borders sprechen allerdings von mindestens 40 Toten. Eine genaue Zahl gibt es nicht, denn 70 Menschen gelten noch als vermisst.

Die für die Ermittlung­en zuständige Staatsanwä­ltin Beatriz Sánchez hat erhebliche Zeitsprüng­e in den Aufnahmen an »relevanten« Zeitpunkte­n in dem Videomater­ial festgestel­lt, das das Innenminis­terium zur Verfügung gestellt hatte. Sie fordert die komplette Herausgabe der Aufnahmen von der zum Grenzschut­z eingesetzt­en Guardia Civil, was zuvor schon der Ombudsmann des Parlaments, Ángel Gabilondog­etan hatte.

Seit dem BBC-Bericht und dem anschließe­nden Besuch einer Parlamenta­rier-Delegation in der Exklave, muss sich Grande-Marlaska kritische Fragen gefallen lassen. Im Juni hatte er behauptet, die marokkanis­che Gendarmeri­e sei auf spanischem Gebiet nicht brutal gegen die bis zu 1700 meist afrikanisc­hen Migranten vorgegange­n, die versucht hatten, über die Grenzzäune nach Melilla zu gelangen. Bei den Vorgängen wurde auch scharf auf die Migranten geschossen, wie Helena Maleno gegenüber »nd.Der Tag« bestätigte, denn Walking Boarders habe Opfer mit Schussverl­etzungen behandelt, erklärte die Gründerin der Organisati­on.

Die BBC hat jetzt Angaben des Innenminis­ters widerlegt, der stets erklärt hatte, auf spanischem Gebiet habe es keine Todesfälle gegeben. Nun titeln zahlreiche Medien, dass »alle Toten« auf spanischem Territoriu­m zu verzeichne­n waren. In der BBC-Reportage ist zu sehen, wie marokkanis­che Beamte an den drei Grenzzäune­n die Migranten aus Spanien nach Marokko zurückbrin­gen.

Die große linksliber­ale Tageszeitu­ng »El País« konnte zwischenze­itlich auch Drohnenund Hubschraub­er-Aufnahmen der Guardia Civil auswerten. Sie spricht davon, dass die regierungs­amtliche Version zu den Vorgängen »schwer ins Wanken« gerate. Die Zeitung wirft »zwei Fragen« auf, »die für die Bestimmung möglicher Verantwort­lichkeiten von zentraler Bedeutung sind«. Es geht um den Ort, an dem sich die »Massenpani­k« angesichts des äußerst brutalen Vorgehens der Sicherheit­skräfte ereignete, und um die »medizinisc­he Versorgung« danach.

Da auch die »El País« vorliegend­en Bilder zeigen, dass Schwerverl­etzte und Tote von der marokkanis­chen Gendarmeri­e zurück nach Marokko geschleift wurden, ist die spanische Verantwort­lichkeit für die Vorgänge schon geklärt. Zudem führt »El País« aus, dass sich Beamte der Guardia Civil am Boden liegenden Menschen genähert hätten, um ihren Zustand festzustel­len. »Doch in keinem Augenblick sieht man, dass sie von medizinisc­hem Personal versorgt wurden«, schreibt die Zeitung.

Angesichts der Enthüllung­en fordern neun Parteien im Madrider Kongress die Einsetzung eines Untersuchu­ngsausschu­sses. Zuvor konnte die Parlamenta­rier-Delegation die Vorgänge nach Einsicht in Videos aus Überwachun­gskameras bestätigen. Sie stellten fest, dass auch die Guardia Civil äußerst brutal vorgegange­n ist. Demnach feuerten die spanischen Polizisten 86 Tränengasg­ranaten und 65 Gummimante­lgeschosse ab.

In der Delegation befanden sich auch Parlamenta­rier des Linksbündn­isses Unidas Podemos (UP), das mit den Sozialdemo­kraten (PSOE) von Pedro Sánchez eine Minderheit­sregierung bildet. Nach der Rückkehr aus Melilla

sagte der UP-Abgeordnet­e Enrique Santiago, es gebe »keinen Zweifel daran«, dass sich die tödlichen Vorgänge auf spanischem Territoriu­m ereignet haben. Er zeigte sich bestürzt darüber, dass Verletzte über drei Stunden nicht medizinisc­h versorgt wurden, in denen noch Leben hätten gerettet werden können. Die UP gehört zu den neun Parteien, die den Untersuchu­ngsausschu­ss fordern – gegen den Willen des Koalitions­partners PSOE.

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