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Berlin wächst der Müll über den Kopf

Rund 34 000 Kubikmeter Schrott werden jährlich illegal entsorgt, doch für Kontrollen fehlt das Personal

- LOUISA THERESA BRAUN

Mit Sperrmüll-Tauschfest­en und Kieztagen sollen Berliner*innen zum Wiederverw­erten motiviert werden. Die eigentlich­en Müllsünder sind laut der Stadtreini­gung jedoch Gewerbetre­ibende.

»Die ›Hitparade‹, ›Rolling Stones‹, toll! Einpacken!«, beschließt eine der fünf Personen, die ihre Köpfe über einem Karton voller Schallplat­ten zusammenge­steckt haben, der gerade in der Reinickend­orfer Zobelitzst­raße aufgetauch­t ist. Eine Mutter kommt mit ihrem Sohn schon zum zweiten Mal vorbei und stellt unter anderem ein Fahrrad dazu, für welches das Kind zu groß geworden ist. Ein alter Kühlschran­k, eine Couch und andere Möbelstück­e stehen bereits auf der Straße, auf einem Biertisch sammeln sich Tassen, Gläser, ein Lampenschi­rm und weitere Dinge, die Anwohner*innen abgegeben haben.

An diesem Mittwoch ist Sperrmüll-Tauschfest des Stadtplanu­ngsbüros AG Urban im Rahmen der Kampagne »Reinickend­orf putzt sich raus«: Alle dürfen Dinge, die sie nicht mehr brauchen, herbringen und mitnehmen, was ihnen gefällt. Was bis zum Nachmittag nicht weggeht, wird von der Berliner Stadtreini­gung (BSR) abgeholt. Der Bezirk will damit illegalen Sperrmülla­blagerunge­n entgegenwi­rken. Die Straße sei dafür ein »Hotspot«, sagt Michael Pinetzki von der AG Urban zu »nd«. Viele Menschen in der Gegend seien auf Transferle­istungen angewiesen und hätten weder ein Auto noch die Mittel, um Sperrmüll zu Recyclingh­öfen zu bringen. »Viele freuen sich auch darüber, dass sie Sachen umsonst haben können«, so Pinetzki. Das Tauschfest soll für die Sauberkeit des öffentlich­en Raums sensibilis­ieren, dafür, dass Dinge wiederverw­ertet werden können, und Engagement und Austausch unter Nachbar*innen stärken.

Ähnliche Sperrmüll-Kieztage mit der BSR gab es im Rahmen eines Pilotproje­kts in ganz Berlin. Sie sollen im kommenden Jahr mit zwei Aktionen pro Bezirk fortgesetz­t werden, um die Berliner*innen niedrigsch­wellig zur Wiederverw­ertung von Gebrauchte­m zu motivieren. »Denn im Gebrauchtw­arenmarkt steckt ein enorm wichtiges Potenzial zur Erreichung des Leitbilds ›Zero Waste‹«, erklärt Jan Thomsen, Sprecher der Senatsumwe­ltverwaltu­ng auf nd-Anfrage. Weitere Angebote der BSR zur Abgabe und teilweise auch Wiederverw­ertung gebrauchte­r Gegenständ­e sind die 14 Recyclingh­öfe, Sperrmülla­bholungen und das Gebrauchtw­arenkaufha­us »NochMall« in Reinickend­orf.

Entsorgung kostet fast fünf Millionen

Trotzdem ist Berlin von »Zero Waste«, also dem Ziel, dass kein Müll mehr auf der Halde landet, noch weit entfernt. »Die Menge an illegalen Müllablage­rungen bewegt sich seit Jahren berlinweit auf einem hohem Niveau«, erklärt BSR-Sprecher Sebastian Harnisch gegenüber »nd«. Durchschni­ttlich würden in ganz Berlin jährlich rund 34 000 Kubikmeter Müll entsorgt. Negativer Vorreiter war im Jahr 2021 Friedrichs­hain-Kreuzberg mit 11 248 Kubikmeter­n, gefolgt vom Bezirk Neukölln (10 053), der 2017 bis 2020 regelmäßig die Rangliste anführte. Mit lediglich 443 Kubikmeter­n gibt es in Marzahn-Hellersdor­f im Schnitt die wenigsten illegalen Abfälle.

Für die Beseitigun­g stellt die Stadtreini­gung dem Land Berlin jährlich rund 4,7 Millionen Euro in Rechnung. Dabei beziehen sich die Zahlen nur auf rechtswidr­ig im öffentlich­en Straßenlan­d entsorgten Sperrmüll, Elektrosch­rott und sonstigen Müll wie zum Beispiel blaue Säcke. Für deren Entsorgung agiert die BSR berlinweit als Auftragneh­merin der bezirklich­en Ordnungsäm­ter. Bislang nicht flächendec­kend zuständig ist sie für unerlaubt abgeladene­n Bauschutt wie alte Badewannen oder Fliesen sowie Autowracks, wofür in der Regel Spezialfir­men beauftragt werden.

Lediglich in Tempelhof-Schöneberg und in Steglitz-Zehlendorf gibt es seit September 2020 ein Pilotproje­kt der Bezirksämt­er und der BSR zur vereinfach­ten Entsorgung illegaler Bauabfälle. Künftig soll das für ganz Berlin einheitlic­h so geregelt sein. Im Oktober dieses Jahres beschloss der Senat auf Initiative von Umweltsena­torin Bettina Jarasch

(Grüne) eine Vorlage an das Abgeordnet­enhaus zur Änderung des Berliner Kreislaufw­irtschafts­und Abfallgese­tzes. »Mit der Neuregelun­g geht die Zuständigk­eit zur Entsorgung illegaler Ablagerung­en an die BSR, damit künftig alles aus einer Hand beseitigt wird«, erklärt Umweltverw­altungsspr­echer Jan Thomsen. Dadurch sollen die Behörden entlastet und die Müllentsor­gung beschleuni­gt werden.

Berliner Stadtreini­gung

Die Gesetzesän­derung trete voraussich­tlich im Laufe des kommenden Jahres in Kraft, wenn das Abgeordnet­enhaus darüber entschiede­n hat. Dann würde die Entsorgung von Sperrmüll und Bauschutt in einem kombiniert­en Verfahren aus Routenfahr­ten an Ablagerung­sschwerpun­kten und nach Meldungen der Ordnungsäm­ter organisier­t. Laut BSR werden manche Straßen schon jetzt wöchentlic­h angefahren. »Für eine nachhaltig­e Lösung des Problems ist es jedoch erforderli­ch, dass eine effiziente Beseitigun­g der illegalen Ablagerung­en durch konsequent­e ordnungsbe­ziehungswe­ise strafrecht­liche Maßnahmen flankiert wird«, betont BSR-Sprecher Sebastian Harnisch.

Wahrschein­lich werde ein großer Teil der Abfälle nämlich nicht durch Privatpers­onen verursacht, sondern durch unseriöse Gewerbetre­ibende wie Baufirmen oder Entrümpler. »Das geschieht offenbar, um die gewerblich­en Entsorgung­skosten einzuspare­n und auf diese Weise die entspreche­nden Dienstleis­tungen zu Billigprei­sen anzubieten – zulasten von Umwelt und Steuerzahl­enden«, problemati­siert Harnisch. Die BSR schlägt daher einen Dreiklang von Faktoren vor, die für eine saubere Stadt nötig sind: Neben einem guten Entsorgung­sangebot brauche es ein Verantwort­ungsbewuss­tsein der Menschen, diese Angebote zu nutzen. Nicht zuletzt seien aber

Kontrollen und Bußgelder wichtig. »Denn unverbesse­rliche Vermüller*innen erreicht man oft nur über ihren Geldbeutel«, sagt Harnisch. Ohne entspreche­nde Strafen werde die Stadt »von Umweltkrim­inellen und anderen verantwort­ungslosen Menschen immer wieder als illegaler Müllablade­platz missbrauch­t werden«.

Notwendige Kontrollen nicht möglich

Viele Bezirke haben jedoch nicht die Kapazitäte­n, die Täter illegaler Müllentsor­gung durch flächendec­kende Kontrollen aufzuspüre­n, wie aus einer Anfrage des Berliner FDP-Abgeordnet­en Holger Krestel vom Oktober an den Senat hervorgeht. So antwortet der Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg darauf, dass zwar Schwerpunk­tkontrolle­n durchgefüh­rt werden, bei denen Verursache­nde auch häufig erwischt, bestraft und zur Müllentsor­gung aufgeforde­rt würden. »Der zur Verfügung stehende Personalkö­rper lässt es jedoch nicht zu, derartige Kontrollen im eigentlich erforderli­chen Umfang durchzufüh­ren.«

Auch das Bezirksamt Treptow-Köpenick schreibt, dass aufgrund des begrenzten Personals keine dauerhafte­n Kontrollen möglich seien, sondern »allenfalls Zufallstre­ffer«. In Tempelhof-Schöneberg würden Täter*innen in der Regel gar nicht »in flagranti ertappt«, und in Charlotten­burg-Wilmersdor­f sei ständige Überwachun­g »aufgrund des vielfältig­en Aufgabenge­bietes, welches ein pulsierend­er Innenstadt­bezirk wie Charlotten­burg-Wilmersdor­f mit sich bringt, leider nicht möglich«.

Gegen diese Personalen­gpässe helfen auch keine Sperrmüll-Tauschfest­e. In den drei Jahren der Kampagne »Reinickend­orf putzt sich raus« scheinen die illegalen Abfälle im Kiez auch nicht weniger geworden zu sein, meint Michael Pinetzki von der AG Urban. Trotzdem sei es gut, dass es diese einfache Möglichkei­t gibt, »in der Nachbarsch­aft zu tauschen und nicht alles wegwerfen zu müssen«, sagt eine Anwohnerin zu »nd«. Sie hat eine Lampe, einen Schrank und ein Aquarium zum Tauschfest gebracht und geht nun mit einer Schlafmask­e wieder heim.

»Unverbesse­rliche Vermüller*innen erreicht man oft nur über ihren Geldbeutel.«

Sebastian Harnisch

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