Goldjunge und Sturmnovizen
Hansi Flick präsentiert in seinem WM-Kader einige Überraschungen
Bei der Nominierung des WM-Kaders beweist Bundestrainer Hansi Flick gewissen Mut: Neben dem erwarteten Kern nimmt er auch die formstarken Offensivkräfte Mario Götze, Niclas Füllkrug und Youssoufa Moukoko mit nach Katar.
FRANK HELLMANN, FRANKFURT AM MAIN
Vielleicht ist auch von Hansi Flick hinterher ein gewisser Druck abgefallen. Nachdem der Bundestrainer seinen Kader für die WM in Katar (20. November bis 18. Dezember) verkündet hatte, plauderte der Bundestrainer im DFB-Campus an Stehtischen noch entspannt über die anstehenden Herausforderungen. Zuvor hatte Flick erklärt, warum sich in seinem 26-köpfigen Kreis mit Niclas Füllkrug und Youssoufa Moukoko zwei formstarke Bundesligastürmer ohne Länderspieleinsatz befinden. Und warum das Comeback von Mario Götze fast zwangsläufig erfolgen musste. Den Goldjungen von Rio de Janeiro zurückzuholen, ist tatsächlich die größte Überraschung.
Die anhaltend starke Form des Frankfurters ließ Flick fast keine Wahl mehr. »Bei uns steht im Fokus, wie jemand performt. Wir alle wissen, dass Mario ein genialer Fußballer ist, der Gedankenblitze hat.« Für Götze sprach auch dessen körperliche Konstitution. »Er kann dreimal in der Woche 90 Minuten spielen. Er ist topfit«, sagte Flick, über den WM-Siegtorschützen von 2014, der sein letztes von 63 Länderspielen vor fast genau fünf Jahren bestritten hat.
Breiteren Raum nahmen auch die Erläuterungen ein, warum mit Bremens Mittelstürmer Füllkrug und Dortmunds Toptalent Moukoko zwei Debütanten das Vakuum auf der Mittelstürmerposition füllen sollen, für die zuletzt Timo Werner (Leipzig) und Lukas Nmecha (Wolfsburg) verletzt abgesagt hatten. Der 29-jährige Füllkrug wurde bei der Präsentation noch im Vereinstrikot gezeigt, weil er nicht mal Auftritte in der U21-Auswahl des DFB vorweisen kann. Für den zehnfachen Bundesligatorschützen spricht jedoch das »Momentum« (Flick). Zudem schenke der kopfball- und willensstarke Torjäger einer Mannschaft »das Vertrauen, dass immer noch was geht«, so Flick. In Bremen löste die Kunde wahre Begeisterungsstürme aus. Die Mitspieler feierten eine spontane Kabinenparty im Weserstadion, bei der die nordirische Fußball-Kulthymne »Will Grigg’s on fire« kurzerhand auf Füllkrug umgedichtet wurde.
Teenager Moukoko bringt andere Eigenschaften ein. »Er ist schnell, quirlig und hat einen guten Abschluss«, sagte Flick über den 17-Jährigen, der erst am Tag des WM-Eröffnungsspiels in Katar volljährig wird. Keine
Berücksichtigung fanden hingegen zwei Dortmunder Kollegen: Weltmeister Mats Hummels und Marco Reus, beide 33, müssen zu Hause bleiben. »Mats war natürlich enttäuscht. Er ist ein wertvoller Spieler, aber wir haben uns für jüngere entschieden«, erklärte Flick wohlwissend, auf der Innenverteidigerposition bereits breit aufgestellt zu sein. So schenkte er dem 13 Jahre jüngeren Armel Bella-Kotchap vom FC Southampton das Vertrauen. Gegen Reus sprach hingegen dessen lange Leidensgeschichte mit anhaltenden Sprunggelenksproblemen. Aufgrund zu geringer Einsatzzeiten rauschte übrigens auch Robin Gosens (Inter Mailand) durchs Rüttelsieb, der gegenüber Christian Günter (Freiburg) das Nachsehen hatte.
Insgesamt bildet der Bayern-Block mit sieben Akteuren – allesamt mit Stammplatzanspruch – die Basis eines ausgewogenen Aufgebots. »Wir haben es uns nicht einfach gemacht und viele Wenn-dann-Strategien durchgespielt«, verriet Flick, der dem Münchner Trainer Julian Nagelsmann dankte, seine Leistungsträger rechtzeitig wieder in Form gebracht zu haben. Selbst das angeschlagene Sorgenkind Thomas Müller könnte bereits im Testspiel gegen den Oman nächsten Dienstag eingesetzt werden. Nur zwei Tage vorher trifft sich der Tross in Frankfurt am Main, um ins fünftägige Kurztrainingslager in den Oman abzufliegen.
Spätestens mit der Weiterreise nach Katar, wo am 23. November das erste Gruppenspiel gegen Japan ansteht, geraten die Protagonisten dann auch ins sportpolitische Spannungsfeld. Mit deutlichen Worten grenzte sich Flick von den Aussagen des katarischen WM-Botschafters Khalid Salman ab, der Homosexualität jüngst als »geistigen Schaden« bezeichnet hatte. Das mache ihn »sprachlos und fassungslos«, sagte der deutsche Trainer mit ernster Miene. Einerseits müsse jeder verstehen, dass sich seine Auswahl »auf den Sport konzentrieren« wolle. Andererseits versprach der Bundestrainer, »dass wir Augen und Ohren offenhalten, uns nicht wegducken und auf Missstände aufmerksam machen«.