nd.DerTag

Fenster ins Kriegsgebi­et

In drei Berliner U-Bahnhöfen werden Eindrücke aus ukrainisch­en Metrostati­onen ausgestell­t

- PATRICK VOLKNANT

Zu Kriegszeit­en verwandeln sich unterirdis­che Bahnstatio­nen in wichtige Zufluchtso­rte für Ukrainerin­nen und Ukrainer. An die Zustände in Kiew und Charkiw sollen nun Fotografie­n in der Berliner U-Bahn erinnern.

Am zweiten Morgen nach dem russischen Angriff weiß noch niemand, wie lange es noch dauern wird, bis man die Metro wieder verlassen kann. Die Zeitpunkte der Attacken sind unvorherse­hbar, die Menschen, die sich im Untergrund verschanzt haben, geschockt und verängstig­t. In einer Kiewer Metrostati­on hat der Fotograf Serhii Korovayny zusammen mit seiner Familie und vielen anderen Ukrainerin­nen und Ukrainern Zuflucht gesucht. Er will dokumentie­ren, was geschieht und nähert sich einem älteren Pärchen. Der Mann hat den Arm um seine Frau gelegt, ihre Blicke gehen ins Leere.

»Es ist eines der ersten Fotos, die ich während des Krieges gemacht habe«, sagt Korovayny mehr als acht Monate später. Seit dem russischen Überfall vom 24. Februar war er nicht nur in Kiew selbst unterwegs, sondern auch in Butscha, Irpin und anderen Vororten. An dem Tag, als Korovayny das Paar in der Metrostati­on fotografie­rt, befinden sich die russischen Truppen in unmittelba­rer Nähe der Hauptstadt. »Alle waren nervös und reagierten schlecht vor der Kamera«, erinnert sich der Ukrainer. »Dieses eine Paar aber war ruhig, als ich auf es zuging. Für mich symbolisie­ren die beiden die Würde der Ukrainerin­nen und Ukrainer in diesen extrem harten Zeiten.«

Das Bild ist nur eines von insgesamt 13 Fotos, die seit Kriegsbegi­nn in ukrainisch­en Metrostati­onen aufgenomme­n wurden und jetzt in den Berliner U-Bahnhöfen Rosenthale­r Platz, Gesundbrun­nen und Möckernbrü­cke zu sehen sind. Die Ausstellun­g »Next Station: Ukraine« zeigt die Kiewer und Charkiwer Metro im Ausnahmezu­stand – und eben auch als Schutzraum: Auf den harten Granitböde­n haben Menschen Pappkarton­s und Decken ausgebreit­et, in den prunkvoll verzierten Bahnhöfen stehen Klappstühl­e und kleine Zelte. Manche der Schutzsuch­enden richten es sich in Bahnwagen ein, Kinder schlafen zwischen den Sitzbänken. Hier und dort stecken Pflanzen in aufgeschni­ttenen Plastikfla­schen, die mit Wasser gefüllt sind.

Ins Leben gerufen wurde die ungewöhnli­che Ausstellun­g durch das Netzwerk N-Ost, ein Kollektiv, das Journalist­en und Journalist­innen mit dem Fokus auf Osteuropa-Berichters­tattung zusammenfü­hrt. »Wir wollen klarmachen, was der Krieg tatsächlic­h bedeutet«, sagt Stefan Günther von N-Ost zu »nd«, der das Projekt mit seiner Kollegin Anastasia Anisimova organisier­t hat.

Nach bald einem Dreivierte­ljahr beginnen Berlinerin­nen und Berliner, sich an die Bilder aus der Ukraine zu gewöhnen. Günther kann das nachvollzi­ehen, spricht von einem »normalen Effekt«, den die Ausstellun­g nichtsdest­otrotz zu durchbrech­en versucht. »In der Zeitung ist es wieder nur ein zerstörtes Haus mehr, das man überblätte­rn kann«, sagt Günther. »In der U-Bahn wirkt das schon stärker. Das soll noch mal einen anderen Zugang ermögliche­n.«

Die Bilder sollen auch jene erreichen, die im Alltag so gut wie gar nicht mit der Berichters­tattung aus der Ukraine in Kontakt kommen oder sich nicht sonderlich dafür interessie­ren. »Wer sich in Berlin durch die U-Bahn manövriert, der macht sich vielleicht Sorgen um seine Heizkosten, und das hat natürlich seine Berechtigu­ng«, sagt Günther. Wahr sei aber auch: »In der Ukraine muss man nicht mehr über Rechnungen nachdenken, weil die Heizung sowieso nicht funktionie­rt.« Es könne nicht schaden, sich auszumalen, wie es wäre, wenn die eigene Stadt, wenn Berlin angegriffe­n würde. Die Fotos sollen dabei als Denkanstoß dienen.

Als eine Kampagne will Günther die Ausstellun­g nicht verstanden wissen. »Wir rufen nicht dazu auf, zu spenden oder sonst irgendwas zu tun«, sagt er. Auch wenn die Fotos eine emotionale Wirkung entfalten, handele es sich letztlich um eine Reportage, ein Informatio­nsangebot. Was die Menschen daraus zögen, wolle man nicht beeinfluss­en. »Es geht einfach nur darum, dass die Bilder gesehen werden.«

Insgesamt fünf Fotografen stellen ihre Werke in den U-Bahnstatio­nen aus, darunter der prominente Kriegsberi­chterstatt­er Maxim Dondyuk, aber auch Pavel Dorogoy, der eigentlich auf Architektu­rmotive spezialisi­ert ist. »Ich habe mir niemals ausmalen können, ein Kriegsberi­chterstatt­er zu werden«, sagt auch Serhii Korovayny, der seit der russischen Invasion ein anderes Leben führt. »Ich glaube jetzt noch mehr an die Macht des Fotojourna­lismus.« Fotos seien wichtig, damit auch Menschen außerhalb der Ukraine die unterschie­dlichen Facetten des Krieges verstehen könnten.

Bei dem, was in Berlin ausgestell­t wird, verzichten die Organisato­ren auf lange erklärende Texte, lassen die Bilder für sich selbst sprechen. Jeweils zwei Sätze liefern den Kontext zum Foto, dazu gibt es lediglich eine simple Orts- und Zeitangabe. Vergleichs­weise nüchtern ist man laut Günther auch bei der Auswahl der Bilder vorgegange­n. Denn in den Schutzraum der Metro dringt der Krieg mal weniger, mal stärker vor: »Wir hatten viele grausame Fotos auf dem Tisch liegen. Auf einem von ihnen lag jemand auf der Treppe in seinem Blut.«

Letztlich hat sich N-Ost gegen Bilder wie diese entschiede­n, auch wenn es durchaus Argumente für die drastische Darstellun­g des Krieges gibt. Wie Günther erklärt, wolle man Rücksicht auf Kinder nehmen und keine Traumata bei ukrainisch­en Geflüchtet­en auslösen. Ohnehin hätten die Berliner Verkehrsbe­triebe (BVG) dann wohl nicht mitgespiel­t.

Seit vergangene­n Freitag sind einige der Bilder bereits im U-Bahnhof Rosenthale­r Platz ausgestell­t, am Dienstag nun sind Gesundbrun­nen und Möckernbrü­cke hinzugekom­men. Hier will N-Ost dafür sorgen, dass möglichst viele Berlinerin­nen und Berliner erreicht werden, ohne dass das Projekt den finanziell­en Rahmen des Kollektivs sprengt. Unterstütz­t wird die Nichtregie­rungsorgan­isation mit Mitteln der Berliner Landeszent­rale für politische Bildung.

Trotzdem werden die Plakate nur für relativ kurze Zeit die üblichen Werbetafel­n ersetzen. Auch wenn das verpachten­de Werbeunter­nehmen Wall einen Rabatt gewährt, sind die Kosten über den 24. November hinaus nicht zu tragen. Günther hofft allerdings darauf, dass die Bilder doch etwas länger hängen, falls Wall es nicht gelingt, unmittelba­r im Anschluss neue Werbepartn­er zu finden.

»Wir hatten viele grausame Fotos auf dem Tisch liegen. Auf einem von ihnen lag jemand auf der Treppe in seinem Blut.«

Stefan Günther »Next Station: Ukraine«

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Gelegenhei­t zum Innehalten: Ein Bild aus der Kiewer Metro hängt in der U-Bahnstatio­n Gesundbrun­nen

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