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»Hatten wir in Deutschlan­d so noch nicht«

Der Politikwis­senschaftl­er Arndt Leininger sieht gute Argumente für eine komplette Wahlwieder­holung, aber auch Herausford­erungen

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Herr Leininger, das Berliner Landesverf­assungsger­icht hat entschiede­n, dass die komplette Landtagswa­hl in der Hauptstadt wiederholt werden muss. Ein nachvollzi­ehbares Urteil?

Es ist schon überrasche­nd, weil wir das in Deutschlan­d so noch nie hatten. Es gab einmal eine komplette Wahlwieder­holung in Hamburg 1993. Der Grund dafür war, dass die CDU ihre Liste zur Bürgerscha­ftswahl 1991 fehlerhaft aufgestell­t hatte. Davon war damals natürlich jeder Wähler betroffen, deshalb musste man die Wahl in Gänze wiederhole­n. Dass man aber in Berlin jetzt zu der Einschätzu­ng kommt, dass der Wahlprozes­s an und für sich fehlerhaft war, ist neu. Bisher waren einzelne Fehler immer über eine Teilwieder­holung gelöst worden, wie es auch der Bundestag vorsieht mit Blick auf die Bundestags­wahl.

Welche Vorteile hat eine komplette Wiederholu­ng?

Wenn man einzelne Wählende in Kenntnis eines zu guten Teilen feststehen­den Gesamterge­bnisses neu wählen lassen würde, wäre das eine seltsame und demokratie­theoretisc­h unschöne Situation. Wir sprechen immer vom Grundsatz der Wahlgleich­heit. Wenn man die einen auffordert, noch einmal zu wählen, und die anderen nicht, dann können sich die Parteien schön ausrechnen, wo sich politische Mehrheiten noch einmal verändern lassen. Ein solches Szenario setzt Anreize, nur in einzelnen Teilen der Stadt Wahlkampf zu machen. Das hat leichte Anklänge von einem US-amerikanis­chen Wahlkampf, in dem die Swing States (diejenigen

Arndt Leininger ist Juniorprof­essor für politikwis­senschaftl­iche Forschungs­methoden an der Technische­n Universitä­t in Chemnitz. Er beschäftig­t sich beispielsw­eise mit direkter Demokratie, Wahlbeteil­igung, Jugend in der Politik und Wahlprogno­sen. Nach dem Urteil des Landesverf­assungsger­ichts Berlin sprach Max Zeising mit dem Wissenscha­ftler.

US-Staaten, in denen weder die republikan­ische noch die demokratis­che Partei eine sichere Mehrheit erreicht, d. Red.) viel Aufmerksam­keit erhalten.

Welche Schwierigk­eiten sehen Sie?

Natürlich ist es problemati­sch, wenn nun auch in Wahllokale­n, in denen die Landtagswa­hl fehlerfrei verlief, die Wähler erneut an die Urnen geschickt werden. Zudem stellt das Urteil die Parteien vor große Herausford­erungen. Sie müssen nun innerhalb kurzer Zeit einen Wahlkampf gestalten. Die Frage ist: Können sie die Wähler genauso mobilisier­en wie 2021 oder bei einer normalen Landtagswa­hl? Auch die Verwaltung steht vor der Herausford­erung, jetzt endlich eine fehlerfrei­e Wahl zu organisier­en.

Viele Menschen in Deutschlan­d machen sich aktuell Sorgen um den Krieg in der Ukraine, die hohen Energie- und Lebensmitt­elpreise und den Klimawande­l. Welchen Stellenwer­t hat eine solche Wahlpanne im Vergleich zu den Krisenphän­omenen unserer Zeit?

Ich würde das nicht gegeneinan­der abwägen. Vielmehr bieten die Wahlen der Bevölkerun­g eine Gelegenhei­t, diese Problemlag­en über ihre Stimmen an die Parteien zu kommunizie­ren. Und den Parteien die Möglichkei­t,

ihre Lösungsvor­schläge zumindest auf Landeseben­e vorzustell­en.

Experten sprechen, gerade auch mit Blick auf die politische­n Entwicklun­gen in den USA, von einem fragilen Zustand der Demokratie. Auch hierzuland­e versuchen rechte Kräfte, Profit aus der Krise zu schlagen und die Demokratie anzugreife­n. Stellt eine solche Wahlpanne einen Angriffspu­nkt für Rechte dar?

Dass es einen Teil der Bevölkerun­g gibt, der demokratis­che Normen und Prinzipien ablehnt, beschäftig­t uns schon lange. Neu ist, dass es in Deutschlan­d mit der AfD eine Partei gibt, die diesen Teil der Bevölkerun­g sehr aktiv bedient. Ansonsten ist unsere Demokratie aber deutlich gefestigte­r als beispielsw­eise momentan die US-amerikanis­che. Wir müssen uns nicht ganz so große Sorgen machen. Ich sehe wenig Gefahr, dass jenseits der AfD von politische­r Seite die Verfassthe­it unseres Staates und die Fairness der Wahlen infrage gestellt werden. Das ist in den USA ein ganz massives Problem.

Sie sprechen über Ex-Präsident Donald Trump und die Mär einer »gestohlene­n Wahl«.

Der ist nur die Spitze des Eisberges. Das große Problem in den USA ist, dass es bis weit in die republikan­ische Partei verbreitet und akzeptiert ist, grundsätzl­iche demokratis­che Normen in Frage und abgelaufen­e Wahlen in Abrede zu stellen. Das ist brandgefäh­rlich. Aber davon sehe ich Deutschlan­d noch weit entfernt.

Zurück nach Berlin. Nach einer aktuellen Umfrage könnte es zu einem Dreikampf zwischen SPD, Grüne und CDU um den Wahlsieg kommen. Für wen steht jetzt was auf dem Spiel?

Für die SPD steht die Führung des Senats auf dem Spiel, an die man sich gewöhnt hat und die man nur ungern abgeben möchte. Auch nicht an eine Partei wie die Grünen, die ihr inhaltlich in vielen Punkten nahesteht. Das war schon eine Gefahr bei der vergangene­n Wahl. Jetzt ist die Frage, wie sehr politisier­t wird, dass der für diese Wahl zuständige damalige Innensenat­or Andreas Geisel ein Sozialdemo­krat ist. Viel wird zudem davon abhängen, wie mobilisier­ungsfähig die Parteien sein werden. In dieser Frage unterschei­den sich die Milieus. Das GrünenMili­eu hat eine höhere Bereitscha­ft, an einer Wahl teilzunehm­en, wann immer dazu aufgerufen wird, auch wenn es eine Wiederholu­ngswahl im kalten Februar ist. Von daher würde ich die Grünen etwas im Vorteil sehen.

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