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Zweiter Versuch für Berlin

Die Wiederholu­ng der Abgeordnet­enhauswahl war noch nicht verkündet, da hatte in der Hauptstadt der Wahlkampf bereits begonnen

- ANDREAS FRITSCHE

Wegen schwerer Pannen muss die BerlinWahl vom 26. September 2021 komplett wiederholt werden. Die Probleme in der Stadt sind die gleichen, aber die Stimmung könnte sich gewandelt haben. Viel Zeit für den Wahlkampf bleibt nicht.

Hätte die AfD knapp 2000 Stimmen mehr erhalten, so hätte sie jetzt einen Sitz mehr im Berliner Abgeordnet­enhaus. Hätten die Grünen 10000 Stimmen mehr bekommen, so würde es für sie ein zusätzlich­es Mandat geben und das Landesparl­ament würde 148 statt 147 Abgeordnet­e zählen. Bei der FDP hätte schon eine dreistelli­ge Zahl von Stimmen genügt, um die Zusammense­tzung ihrer Fraktion zu verändern. Die FDP wäre dann insgesamt nicht stärker im Parlament vertreten. Aber es würde für sie jemand anders Landespoli­tik machen. Mit solchen Rechenbeis­pielen begründete Gerichtspr­äsidentin Ludgera Selting am Mittwoch, warum der Verfassung­sgerichtsh­of der Hauptstadt die Berliner Abgeordnet­enhauswahl vom 26. September 2021 wegen schwerer Pannen flächendec­kend für ungültig habe erklären müssen. Die Folge davon: Die Wahl des Abgeordnet­enhauses und der zwölf Bezirkszir­ksverordne­tenversamm­lungen muss wiederholt werden – am 12. Februar soll das geschehen.

Es komme nicht nur darauf an, ob eine ordnungsge­mäße Wahl andere Mehrheitsv­erhältniss­e ergeben hätte. Auch andere Sitzvertei­lungen (siehe FDP) wären von Belang. Im Juristende­utsch oder in Fachchines­isch heißt das: »Für die Mandatsrel­avanz gilt der Grundsatz der potenziell­en Kausalität.« Will heißen: Es muss nicht wahrschein­lich sein, dass eine Wahl ohne schwere Pannen zu anderen Ergebnisse­n geführt hätte. Die Möglichkei­t genügt schon. Ein Argument gegen eine Wiederholu­ngswahl lautet: Die Ergebnisse hätten sich ja ungefähr mit den Umfragewer­ten der Parteien gedeckt. Aber wenn man so herangeht, könnte man sich die Spielregel­n der Demokratie gleich sparen und durch Meinungsfo­rschung ersetzten. So geht es nicht, äußerte Selting.

Bei der Vorbereitu­ng der Wahl vom 26. September 2021 war riskant auf eine völlig überhöhte Zahl von Briefwähle­rn spekuliert worden. So fehlte es in den Wahllokale­n an Wahlkabine­n und es bildeten sich lange Schlangen. Stellenwei­se gingen auch die Stimmzette­l aus und konnten nicht schnell nachgelief­ert werden. Denn wegen eines Marathons am selben Tage waren zahlreiche Straßen abgesperrt und die Fahrzeuge mit dem Nachschub kamen nicht durch. Stellenwei­se sind auch fehlerhaft­e Stimmzette­l ausgegeben worden.

Das jetzt gefällte Urteil hatte sich schon Wochen vorher abgezeichn­et. Trotzdem ist es ein Paukenschl­ag und ein »wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der Wahlen

der Bundesrepu­blik Deutschlan­d«, wie Ludgera Selting sagte. Sie betonte, es habe keine Wahlfälsch­ung und keine andere Manipulati­on vorgelegen, nur schlechte Organisati­on. Das Chaos sei auch nicht auf »mangelndes Engagement der rund 38 000 Wahlhelfer« zurückzufü­hren. Diese hätten alles ihnen Mögliche unternomme­n, aber gar keine Chance gehabt. So war es nicht zulässig, die vor dem Wahllokal Wartenden noch lange nach 18 Uhr zur Stimmabgab­e hereinzula­ssen. Aber ebenso wäre es unzulässig gewesen, Wählern

ihr Wahlrecht zu verweigern, erläuterte Selting. Die Senatsinne­nverwaltun­g hatte in dem Verfahren gemeint, der Verfassung­sgerichtsh­of hätte noch mehr ermitteln und gegebenenf­alls Gutachten von Sachverstä­ndigen einholen müssen. Das Gericht berief sich aber auf die Auswertung der Niederschr­iften der 2256 Wahllokale und hielt dies für ausreichen­d. Das Versagen wurde darin hinreichen­d offenbar.

Nun ist es, wie es ist. »Wir respektier­en die Entscheidu­ng des Landesverf­assungsger­ichtshofs.

Wie angekündig­t werden wir als Senat keine Beschwerde gegen die Entscheidu­ng einlegen«, versichert­e die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD).

Für die Grünen erklärten die beiden Landesvors­itzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai: »Wir respektier­en und akzeptiere­n das Urteil.« Dieses Urteil sei eine »heftige Klatsche für die Verantwort­lichen der letzten Wahl«. Nun müsse die Wiederholu­ngswahl profession­ell organisier­t werden. Innensenat­orin Iris Spranger (SPD) trage dafür die Verantwort­ung. Der Wahlkampf hatte im Grunde schon begonnen, noch bevor das Urteil verkündet wurde. Jetzt nimmt er schnell Fahrt auf. Die CDU lud noch am Mittwoch zu einem Termin am Freitag, bei dem sie einen Ausblick auf ihre Kampagne geben möchte. Es präsentier­t sich dazu der alte und zwangsläuf­ig neue CDU-Spitzenkan­didat Kai Wegner. Denn für die Wiederholu­ngswahl werden keine neuen Listen aufgestell­t, sondern die alten den Wählern noch einmal zum Ankreuzen vorgelegt.

Während sich die Namen nicht ändern, haben sich die Zeiten sehr geändert. Die Linke will dem Rechnung tragen und mit komplett neu entworfene­n Wahlplakat­en aufwarten. Die alten Wahlplakat­e seien wie vorgeschri­eben bereits innerhalb einer Woche nach dem Wahltermin abgehängt und bald darauf entsorgt worden, bestätigte Landesgesc­häftsführe­r Sebastian Koch dem »nd«. Wiederverw­enden ließen sich also nur die Motive, die erneut gedruckt werden könnten. Das will der Landesverb­and aber nicht machen. »Die Stimmung in der Stadt ist eine andere, die Sorgen der Menschen sind andere und das muss sich in den Plakaten widerspieg­eln«, erläuterte Koch. Das kostet natürlich alles eine Stange Geld. Normalerwe­ise spart der Landesverb­and fünf Jahre auf eine Abgeordnet­enhauswahl hin. Nun ist aber erst ein Jahr vergangen. Man werde »kräftig an die Rücklagen gehen müssen«, sagte Koch. Das sei ein Problem, aber so gehe es anderen Parteien ja auch – falls sie nicht durch großzügige Unternehme­nsspenden schnell ihre Kassen füllen können. Die Linke wird traditione­ll mit finanziell­en Zuwendunge­n aus der Wirtschaft nicht überhäuft und will selbst unabhängig davon bleiben. Landesgesc­häftsführe­r Koch sagte es so: »Andere haben Unternehme­nspenden, wir haben Überzeugun­gen.« Nach seiner Einschätzu­ng wird wahlentsch­eidend sein, welche Partei ihre Anhänger am besten mobilisier­en kann. Inhaltlich ist die Kampagne von 2021 nicht völlig überholt. Damals thematisie­rte die Linksparte­i die steigenden Mieten. Heute sind die Energie- und Lebensmitt­elpreise dazu gekommen.

Für die Wirtschaft kommt die Wiederholu­ngswahl »zum denkbar ungünstigs­ten Zeitpunkt«. So formuliert es Christian Amsinck von der Vereinigun­g der Unternehme­nsverbände in Berlin und Brandenbur­g. Seiner Ansicht nach müsste die Politik alle Kraft darauf konzentrie­ren, die Gesellscha­ft und die Firmen durch die Krise zu bringen. »Stattdesse­n beschäftig­t sich die Politik mit sich selbst. Der Wahlkampf und möglicherw­eise die Bildung einer Regierung sorgen für monatelang­en Stillstand«, beklagte Amsinck. So ähnlich Sebastian Stietzel, Präsident der Berliner Industrie- und Handelskam­mer: Er wünschte sich eine Politik, die »nicht in ideologisc­he Grabenkämp­fe oder Wahlkampfg­etöse abgleitet«.

Nicht berührt vom Urteil des Verfassung­sgerichtsh­ofs ist die Bundestags­wahl vom 26. September 2021. Für diese Wahl ist das Gericht nicht zuständig. Nicht wiederholt werden muss der Volksentsc­heid »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Ob aber voraussich­tlich am 12. Februar zeitgleich mit der Wiederholu­ngswahl ein Volksentsc­heid »Berlin 2030 klimaneutr­al« stattfinde­n kann, steht noch in Frage.

»Wir respektier­en die Entscheidu­ng des Landesverf­assungsger­ichtshofs. Wie angekündig­t werden wir als Senat keine Beschwerde gegen die Entscheidu­ng einlegen.«

Franziska Giffey

Regierende Bürgermeis­terin

 ?? ?? Auf in den Wahlkampf: Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (r., SPD) entfernt sich nach einem Kommentar zum Urteil.
Auf in den Wahlkampf: Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (r., SPD) entfernt sich nach einem Kommentar zum Urteil.

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