nd.DerTag

Zweifel an der Einzeltäte­rthese

Frankfurte­r Landgerich­t spricht Urteil im »NSU 2.0«-Verfahren

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Staatsanwa­ltschaft und Nebenklage sind sicher: Alexander M. ist für die mit »NSU 2.0« unterschri­ebenen Drohbriefe verantwort­lich. Doch ob er tatsächlic­h allein handelte, bleibt umstritten.

Es kommt nicht oft vor, dass sich Verteidigu­ng und Nebenklage in einem Strafproze­ss in einem wichtigen Punkt einig sind. Schließlic­h will Erstere für ihren Mandanten ein möglichst mildes Urteil erreichen, während Zweitere eher das Gegenteil beabsichti­gt. Im Fall des vor dem Landgerich­t Frankfurt am Main angeklagte­n Alexander M. passen beide sich widersprec­henden Perspektiv­en dennoch zusammen. Dem 54-Jährigen wird vorgeworfe­n, für mehr als 100 Drohbriefe in Form von Faxen, Mails und SMS verantwort­lich zu sein, die an Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Jurist*innen, Künstler*innen und andere teils prominente Persönlich­keiten verschickt wurden. 30 Verhandlun­gstage und 50 Zeug*innen später sind Staatsanwa­ltschaft und Nebenklage überzeugt: M. ist für die zwischen August 2018 und März 2021 versandten und mit »NSU 2.0« gekennzeic­hneten Hassschrei­ben verantwort­lich. Der arbeitslos­e IT-Techniker sieht das anders, plädiert auf Freispruch, während seine Verteidigu­ng lediglich erklärt, die von der Staatsanwa­ltschaft geforderte­n siebeneinh­alb Jahre Gefängnis seien zu hoch angesetzt, was viel über das schwierige Verhältnis zwischen M. und seinen Anwälten verrät.

In einer Frage sind sich Verteidigu­ng und Nebenklage jedoch ungewöhnli­ch einig: Sie üben deutliche Kritik daran, dass die Staatsanwa­ltschaft davon ausgeht, M. habe als Einzeltäte­r gehandelt. Es gibt zumindest Indizien, die eine Beteiligun­g eines Frankfurte­r Polizisten vermuten lassen. Kurz bevor im August 2018 das erste Drohschrei­ben in Form eines Faxes bei der Anwältin Seda Başay-Yıldız einging, gab es auf dem 1.

Frankfurte­r Polizeirev­ier eine umfangreic­he Datenabfra­ge zu ihrer Person. Zwar wurden der Beamte Johannes S. und seine Kolleg*innen dazu geladen, doch wie so oft kam dabei wenig bis nichts heraus. Die Nebenklage ist allerdings so sehr davon überzeugt, dass das erste Drohfax nicht von M. verschickt wurde, weshalb sie für diese eine Tat Freispruch für den Angeklagte­n beantragt hat.

Warum, das erklären sechs Betroffene in einer am Dienstag veröffentl­ichten Stellungna­hme anlässlich der für Donnerstag angesetzte­n Urteilsver­kündung. »Wir gehen nach der Beweisaufn­ahme davon aus, dass der Angeklagte M. die Daten von Seda Başay-Yıldız nicht durch einen Anruf auf dem Revier erhalten haben kann«, heißt es in der Erklärung der drei Linken-Politikeri­nnen Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm, der Kabarettis­tin Idil Baydar, der Autorin Hengameh Yaghoobifa­rah und der Anwältin BaşayYıldı­z. Die Sechs bezeichnen es als »Skandal, dass die Staatsanwa­ltschaft Frankfurt sich auf den vermeintli­chen Einzeltäte­r, den Angeklagte­n M. festgelegt« habe und versuche, die mögliche Rolle einer Gruppe rechter Beamten*innen auf dem 1. Frankfurte­r Polizeirev­ier aus dem Verfahren herauszuha­lten.

Unabhängig von einer ungeklärte­n möglichen Tatbeteili­gung wurde in dem Prozess deutlich, dass nicht nur der Angeklagte Alexander M. neonazisti­sche Ideologie vertritt, sondern auch der Polizist Johannes S. offenbar ein extrem rechtes Weltbild vertritt. Der Beamte sitzt in einem anderen Verfahren auf der Anklageban­k, weil er zu der extrem rechten Chatgruppe »Itiotentre­ff« gehörte, in der hessische Polizist*innen rassistisc­he, antisemiti­sche und andere menschenve­rachtende Beiträge austauscht­en.

»Mit dem Urteil – so viel steht schon jetzt fest – ist kein Freispruch für rechte Netzwerke in der Polizei verbunden«, heißt es dann auch in der Erklärung der sechs Empfängeri­nnen von »NSU 2.0«-Drohschrei­ben. Sie fordern, die Ermittlung­en zu den polizeilic­hen Datenabruf­en weiterzufü­hren, auch mit Blick auf die offenen Ermittlung­sverfahren gegen die an der Chatgruppe beteiligte­n Polizeibea­mt*innen.

Beschwicht­igende Signale verbreitet­e am Mittwoch dagegen die Gewerkscha­ft der Polizei (GdP). Man vertraue darauf, »dass Ermittlung­sund Strafverfo­lgungsbehö­rden tadellos ihre Arbeit verrichtet haben«, so Jens Mohrherr, hessischer GdP-Landeschef. »Es gibt keine rechten Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei«, ist er überzeugt. Es sei klar, dass nicht Polizeibea­mt*innen die Drohmails verfasst und versendet hätten. Die Polizei sei vorverurte­ilt und unter Generalver­dacht gestellt worden.

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