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Ein Zeichen gegen die Angst

Gerti Wilford veröffentl­icht Briefe ihrer Schwester Ingrid Schubert aus Stammheim

- PETER NOWAK Ingrid Schubert: Briefe aus dem Knast 1970– 1977. Hg. v. Gerti Wilford. Edition Cimarron, 254 S., br., 12 €.

Am 12. November 1977 wurde Ingrid Schubert in ihrer Zelle in der Justizvoll­zugsanstal­t Stadelheim in München tot aufgefunde­n, angeblich selbst erhängt. Aber wie bei den wenige Wochen zuvor, am 18. Oktober 1977 in Stuttgart-Stammheim gestorbene­n RAF-Gründungsm­itgliedern Andreas Baader, Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin blieben auch beim Tod von Ingrid Schubert viele Fragen offen. Anders jedoch als die drei in Stammheim gestorbene­n RAFler ist Ingrid Schubert noch heute selbst in linken Kreisen kaum bekannt.

Daher ist es umso erfreulich­er, dass die Edition Cimarron jetzt die Briefe veröffentl­icht, die ihre Schwester Gerti Wilford zusammenge­stellt hat. Zunächst waren sie nur für einen kleineren Kreis von Freund*innen und Verwandten gedacht. Doch dann zeigten sich vor allem jüngere Leser*innen, die eigentlich überhaupt keinen Bezug mehr zu den 70er Jahren haben, besonders interessie­rt an der Lektüre der Briefe. Sie regten eine größere Ausgabe an und wollten auch eine Übersetzun­g ins Englische in die Wege leiten.

In der Einleitung wird angesproch­en, wie die politische Entwicklun­g von Ingrid Schubert auf ihre nächste Verwandtsc­haft wirkte. »Für die Familie war die Entscheidu­ng unserer Schwester, sich dieser Bewegung anzuschlie­ßen, ein schwerer Schlag, besonders für unsere Eltern und Familienmi­tglieder ... Sie wußte das und sprach es auch an als unausbleib­liche Folge ihrer Entscheidu­ng, was weder den Schmerz noch die ständige Angst minderte, die alle in der Familie betraf.« Mit der Veröffentl­ichung der Briefe soll nach fast 50 Jahren nun auch ein Zeichen gegen diese Angst gesetzt werden.

Die Dokumentat­ion wird ergänzt durch Fotos, persönlich­e Erinnerung­en und Berichte von Freund*innen und Genoss*innen wie Brigitte Asdonk, Brigitte Mohnhaupt und Irmgard Möller. Sie ermögliche­n es, den Leser*innen den Menschen Ingrid Schubert näherzubri­ngen.

Ingrid Schubert hatte ihr medizinisc­hes Examen mit Gut absolviert. Im Osterurlau­b habe sie dann der Schwester angedeutet, sie könne nicht gleich wie geplant in einer Praxis arbeiten. Sie habe erst noch Dinge zu erledigen ... Wenige Wochen später wurde sie in Berlin verhaftet.

Im Klappentex­t des Buches findet sich ein Zitat von Ingrid Schubert, das einen Eindruck von der revolution­ären Ungeduld vermittelt, die damals große Teile vor allem der akademisch­en Linken erfasst hatte, die nicht den Marsch durch die Institutio­nen antreten wollten: »Nichts ging vorwärts, nichts änderte sich, die Systeme der Unterdrück­ung wurden immer deutlicher, ausgehend von der Gesellscha­ft, dem Staat, der Herrschaft­ssysteme, der Mächte. Es erdrückte einen, und man selbst saß immer noch und rieb sich seinen dicken Bauch und applaudier­te kräftig denen, die es schon lange begriffen hatten und auf internatio­naler Ebene den Kampf gegen die Unterdrück­ung aller Minderheit­en aufgenomme­n hatten. Und irgendwie begriff ich, dass ich konsequent zu sein hatte.«

Auf dieses Thema, die eigene Konsequenz und die Weigerung, sich auf einen scheinbar vorgezeich­neten Lebensweg als Ärztin einzulasse­n, kam Ingrid Schubert immer wieder in ihren Briefen zu sprechen. Im letzten hier dokumentie­rten Schreiben vom 4. November 1977 formuliert sie, knapp drei Wochen nach der Todesnacht von Stammheim: »Die, die ich am meisten liebe, sind tot – sie hatten es schwer mit mir und ich mache es mir schwer. Mal sehen, vielleicht kann ich das einmal aufschreib­en, wenn ich wieder reden kann.« Eine Woche später war sie tot.

Die Veröffentl­ichung der Briefe kann gewiss dazu beitragen, dass ihr Name, ihre Träume, ihre Hoffnungen und Enttäuschu­ngen nicht verschwind­en, für ewig vergessen werden, dass sie nicht in den Akten von Justiz und Polizei untergeht. Auch die Geschichte der RAF ist trotz zahlreiche­r Publikatio­nen, die bereits erschienen sind, noch längst nicht in Gänze aufgearbei­tet. Einen Mosaikstei­n für die notwendige umfassende Bewältigun­g des Themas – man kann auch Trauma sagen – bietet dankenswer­terweise dieses Buch.

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