nd.DerTag

Finanzpoli­tische Zwangsjack­e

Martin Schirdewan über die geplante Reform der EU-Schuldenre­geln

- INTERVIEW: FABIAN LAMBECK, BRÜSSEL

Die EU-Kommission will die umstritten­en Schuldenre­geln ändern. Künftig sollen die EU-Staaten mehr Spielraum haben und die Bedingunge­n für die Schuldenti­lgung individuel­l mit der Kommission aushandeln dürfen. Ist das ein Fortschrit­t im Vergleich zur jetzigen, doch sehr starren Regelung? Es wäre dann ein Fortschrit­t, wenn die nationalen Parlamente und Regierunge­n gegenüber Kommission und Rat an Handlungss­pielraum gewinnen würden. Die entscheide­nde Frage ist also, ob die Kommission Kontrolle über die nationale Politik beziehungs­weise nationale Demokratie­n abgibt oder im Endeffekt ihre Kontrolle festigt. Die Kommission gibt vor, aus den Fehlern der Vergangenh­eit gelernt zu haben. Die europäisch­en Schuldenre­geln haben ganze öffentlich­e Sektoren zerstört, Druck auf öffentlich­e Gesundheit­ssysteme ausgeübt und wichtige Zukunftsin­vestitione­n verhindert. Aber auch künftig will die Kommission die Umsetzung des Schuldenab­baus überwachen und mögliche Sanktionen anwenden, und so steckt sie die Mitgliedst­aaten wieder in eine finanzpoli­tische Zwangsjack­e.

Die Länder sollen ja bis zu sieben Jahre Zeit haben, auf den »Pfad« zurückzuke­hren, der einen kontinuier­lichen Schuldenab­bau möglich macht. Klingt doch sehr großzügig …

Die direkte Wiedereins­etzung der noch geltenden Schuldenre­geln ab 2024 wäre eine wirtschaft­liche Katastroph­e. Das scheint mittlerwei­le auch Ursula von der Leyen begriffen zu haben. Es ist ein Zugeständn­is

an uns Kritiker der verheerend­en Kürzungspo­litik, dass den Ländern nun mehr Zeit für den Schuldenab­bau gegeben werden soll. Wir müssen ganz genau schauen, was für Reformen und Investitio­nen in diesen Jahren überhaupt geplant werden. Wenn es darauf hinausläuf­t, dass HartzIV-ähnliche Reformen durchgeset­zt und öffentlich­e Investitio­nen in Aufrüstung getätigt werden, dann wäre das nur die Fortsetzun­g der völlig falschen Politik in einem neuen Gewand.

Welche Druckmitte­l hat die Kommission, um die Länder künftig auf den Pfad der Tugend zurückzufü­hren?

Von Tugenden darf man bei den europäisch­en Schuldenre­geln gar nicht reden. Die gehören schon längst in die Mottenkist­e der Geschichte. Die Kommission selbst will auch weiterhin mit finanziell­en Sanktionen sowie Defizitver­fahren arbeiten. Außerdem will sie weiterhin die Möglichkei­t haben, die Länder in der Öffentlich­keit an den Pranger zu stellen. Denn das stärkste Druckmitte­l sind die Reaktionen der Geldgeber auf den Finanzmärk­ten – genauer gesagt: der Investoren auf den Märkten für Staatsanle­ihen. So ist jüngst auch die britische Regierung Truss von den Finanzmärk­ten aus dem Amt gejagt worden.

Die Defizitver­fahren bleiben also Drohkuliss­e für hoch verschulde­te EU-Staaten?

Das ist richtig. Das Defizitver­fahren bleibt. Die alles bestimmend­e Regel, wonach die Schuldenqu­ote nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaft­sleistung betragen darf, stammt ja noch aus der Zeit von Bundeskanz­ler Kohl.

Auf welcher wirtschaft­swissensch­aftlichen Grundlage beruhen eigentlich diese 60 Prozent? Wer hat das damals berechnet?

Die 60-Prozent-Regel ist wissenscha­ftlich nicht begründet. Es macht wenig Sinn, einen festen Prozentsat­z als Schuldengr­enze für alle Zeit festzulege­n. Die Frage, ob Staatsschu­lden zu einem Problem werden oder nicht, hängt von vielen ungewissen, auch politische­n Entwicklun­gen ab. Moderne wirtschaft­swissensch­aftliche Ansätze bezweifeln sogar, dass souveräne Staaten, die die Kontrolle über ihre eigene Währung haben, überhaupt pleitegehe­n können. Damals sollte jedoch eine eindeutige Regel her, um Staaten zum Schuldenab­bau zu zwingen. Das war damals schon Quatsch und ist es heute umso mehr.

Bundesfina­nzminister Christian Lindner hat sich bereits gegen den Vorschlag der Kommission ausgesproc­hen. Der Liberale kritisiert vor allem den Ermessenss­pielraum, den sich die Kommission hier einräumt. Hat der Vorschlag überhaupt eine Chance, wenn die Deutschen sich querstelle­n?

Der Bundesfina­nzminister Lindner versucht sich mal wieder medial in Szene zu setzen. Allerdings ist eine Reform der europäisch­en Schuldenre­gel zwingend notwendig, um in die Zukunft unserer Gesellscha­ft zu investiere­n und damit die Demokratie zu stärken. Weitere Sozialkürz­ungen, Privatisie­rung von Krankenhäu­sern, marode Schulgebäu­de und die Klimakatas­trophe sind nicht mehr hinnehmbar.

Die Kommission will also mehr Disziplin beim Schuldenab­bau, gleichzeit­ig fordern aber Kommissare wie Thierry Breton ein neues Kreditprog­ramm zur Bewältigun­g der Energiekri­se. Wie passt das zusammen?

Es passt insofern zusammen, als es durchaus möglich wäre, auf nationaler Ebene Schuldenab­bau zu diktieren und auf EU-Ebene europäisch­e Kreditprog­ramme umzusetzen. In beiden Fällen hätte die Kommission die Leine in der Hand. Die Stimmen der Bevölkerun­g in den EU-Ländern, die nationalen Parlamente und auch das Europäisch­e Parlament hätten jedoch wenig zu sagen. Deshalb kämpfen wir für ein Ende der absurden Schuldenre­geln und für öffentlich­e Investitio­nen, gute Daseinsvor­sorge und starke soziale Sicherheit. Das stärkt die europäisch­e Demokratie.

INTERVIEW

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Martin Schirdewan ist Co-Vorsitzend­er der Linksparte­i auf Bundeseben­e und Co-Vorsitzend­er der Fraktion Die Linke im Europäisch­en Parlament.
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Statue »Europa« der belgischen Künstlerin May Claerhout vor dem Europäisch­en Parlament in Brüssel

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