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Go, Geisel, go!

Trotz lauter werdender Rücktritts­forderunge­n von vielen Seiten hält Berlins SPD an ihrem Wahlchaos-Senator fest

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Nach der Entscheidu­ng der Verfassung­srichter für eine Komplettwi­ederholung der Berlin-Wahlen von 2021 gerät Senator Andreas Geisel erneut massiv in die Kritik. Auch Deutsche Wohnen & Co enteignen mobilisier­t gegen den SPD-Mann.

»Den Druck halte ich aus«, sagt Berlins Stadtentwi­cklungssen­ator Andreas Geisel (SPD) am Donnerstag im Abgeordnet­enhaus auf die Frage von CDU-Generalsek­retär Stefan Evers, wann er endlich zurückzutr­eten gedenke. »Die Hoffnung, die Sie haben, die Schuld an einer Person – nämlich an mir – abzuladen, geht so nicht auf«, erklärt Geisel weiter. Nein, er sei »nicht frei von Verantwort­ung«. Aber: »Ich nehme Verantwort­ung wahr, indem ich arbeite.« Rücktritt abgelehnt.

Dabei gilt der ehemalige Innensenat­or Geisel als politisch Hauptveran­twortliche­r für das Berliner Wahlchaos am 26. September 2021. Nachdem der Landesverf­assungsger­ichtshof am Mittwoch verkündet hatte, dass die Wahlen zum Abgeordnet­enhaus und zu den Bezirksver­ordnetenve­rsammlunge­n im Februar kommenden Jahres komplett wiederholt werden müssen, steht der SPDMann unter größerem Druck denn je. Umgehend nach der Urteilsver­kündung der Richter forderten die Opposition­sparteien CDU und FDP den sofortigen Abgang Geisels.

Mit einer gewissen Spannung wurde deshalb die für Donnerstag angekündig­te Erklärung von Berlins Regierende­r Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) in der Sitzung des Abgeordnet­enhauses erwartet. Zumindest stand die Frage im Raum, ob sich Giffey im anstehende­n Wahlkampf mit der Entlassung Geisels nicht zügig eines lästigen Bremsklotz­es für sich und ihre Partei entledigen könnte.

Klar ist nun: Die Regierende wird vorerst an ihm festhalten. In Giffeys einstündig­er Regierungs­erklärung unter dem Slogan »Wahlen durchführe­n, Krisen meistern, Zukunftsha­uptstadt voranbring­en« wird der erste Punkt dann auch vergleichs­weise rasch abgehandel­t. Die vergeigte Durchführu­ng der Wahl 2021 »berührt auch mich als Regierende Bürgermeis­terin und als Berlinerin, die ihre Stadt liebt«, sagt Giffey. Es sei daher wichtig, dass ein reibungslo­ser Verlauf der Wiederholu­ngswahl am 12. Februar 2023 abgesicher­t werde.

Noch wichtiger ist der SPD-Frontfrau an diesem Donnerstag aber darzustell­en, was »in Berlin besser läuft«, seitdem sie im Dezember 2021 zur Regierende­n Bürgermeis­terin gewählt wurde. In aller Ausführlic­hkeit widmet sich Giffey daher ihren etwas in Vergessenh­eit geratenen »fünf Bs« aus dem Wahlkampf des vergangene­n Jahres: »Bauen,

Bildung, beste Wirtschaft, Bürgernähe, Berlin in Sicherheit«. Nichts lässt sie an dieser Stelle aus: die Verbeamtun­g der Lehrkräfte, die Schulbauof­fensive, den boomenden Tourismuss­ektor, die Digitalisi­erung in der Verwaltung, die Polizeiwac­he am Kottbusser Tor in Kreuzberg, die Pläne zum U-Bahn-Ausbau.

Natürlich darf auch ihr Bündnis für Wohnungsne­ubau und bezahlbare­s Wohnen nicht fehlen. »Es ist gut, dass wir keinen Schlusspun­kt gesetzt haben, sondern einen Startpunkt für Kooperatio­n statt Konfrontat­ion«, sagt Giffey. Und überhaupt: »Wir haben die klare Bilanz, dass der Wohnungsba­u läuft.« An dieser Stelle fällt das erste und einzige Mal der Name des einstigen Innen- und aktuellen Stadtentwi­cklungssen­ators. Denn, so Giffey: »Das funktionie­rt mit Andreas Geisel.«

Die Fraktionss­pitzen von SPD, Grünen und Die Linke, Raed Saleh, Werner Graf und Anne Helm, verzichten auf die Namensnenn­ung. Helm und Graf schießen gleichwohl

vergiftete Pfeile in Richtung der seinerzeit­igen Hausleitun­g der Innenverwa­ltung. Graf etwa sagt mit Blick auf die Wahlen im vergangene­n Jahr: »Es muss Schluss damit sein, dass wir in Berlin immer mit dem Finger auf den anderen zeigen und die Verantwort­ung nur spüren, aber sie nicht annehmen.«

Der Grünen-Fraktionsc­hef spielt damit auf eine Äußerung Geisels nach der Vorentsche­idung der Verfassung­srichter im September an. Damals hatte der Senator öffentlich erklärt: »Es ist nicht so, dass ich nicht Verantwort­ung spüre.« Und wenn er sich prüfe und sich frage, ob er die Wahl organisier­t habe, dann sage er: »Nein, du hast die Wahl nicht organisier­t.« Und durchaus bockig fügte er hinzu: »Was würde es besser machen, wenn ich zurücktret­e?«

Vieles – davon ist zumindest die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen überzeugt. Ebenfalls am Donnerstag bekräftigt auch die treibende Kraft hinter dem gleichnami­gen

Volksentsc­heid vom September 2021 ihre Forderung nach einem Rücktritt des Senators. Das von Geisel zu verantwort­ende Wahldebake­l sei dabei nur ein guter Grund dafür, dass er seinen Hut nimmt. Der andere sei die ihm zugeschrie­bene Verschlepp­ung des Vergesells­chaftungs-Volksentsc­heids – als Stadtentwi­cklungssen­ator sowieso, aber auch als seinerzeit­iger Innensenat­or.

So hatte Geisels Innenverwa­ltung schon 2020 die Prüfung der Zulassung des dem Volksentsc­heid vorangegan­genen Volksbegeh­rens offenkundi­g bewusst verzögert. Das zeigten jüngst öffentlich gewordene interne Dokumente der Behörde. Es brauchte erst eine Eilklage der Initiative, bis sich etwas bewegte. Nicht anders, so Deutsche Wohnen & Co enteignen, sei es nach dem Erfolg der Initiative an der Wahlurne mit mehr als einer Million Berlinern gelaufen, die für die Vergesells­chaftung der Wohnungsbe­stände großer profitorie­ntierter Unternehme­n stimmten.

Immer wieder zeige sich dabei, dass Mitbestimm­ung und Bürgerinte­ressen für SPD-Senator Geisel ein Graus seien. »Für uns ergibt sich das Gesamtbild eines Innen- und Stadtentwi­cklungssen­ators, der systematis­ch versucht, Bürgerinne­nbeteiligu­ng zu blockieren, und eine Gefahr für demokratis­che Prozesse darstellt«, sagt Initiative­nsprecheri­n Isabella Rogner am Donnerstag. Andreas Geisel und Franziska Giffey, »das Dreamteam der Demokratie­verweigeru­ng«, hätten jetzt ein Jahr lang den Volksentsc­heid verschlepp­t. »Damit werden wir sie nicht durchkomme­n lassen«, gibt sich Rogner kämpferisc­h.

Die Initiative will die Vergesells­chaftung nun erneut zum zentralen Thema im anstehende­n 90-Tage-Wahlkampf machen. Was Wahlplakat­e betrifft, hat man schon mal vorgelegt. Am Mittwochab­end, nur wenige Stunden nach der Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts, hingen in Berlin die ersten Plakate der Kampagne für die Wiederholu­ngswahl 2023. Die unmissvers­tändliche Hauptforde­rung: »Immobilien­lobby abwählen!« Darunter die Konterfeis von »Noch-Senator« Andreas Geisel, »Noch-Bürgermeis­terin« Franziska Giffey und »Noch schlimmer«, CDU-Landesund Fraktionsc­hef Kai Wegner.

Ob mit den Grünen als vielleicht stärkster Kraft bei den Wahlen im Februar und der aktuellen Mobilitäts­senatorin Bettina Jarasch als Regierende­r Bürgermeis­terin der Volksentsc­heid umgesetzt wird? »Bettina Jarasch hat von der Vergesells­chaftung als Ultima Ratio gesprochen und dass man zuerst mit den privaten Wohnungsun­ternehmen reden muss. Das ist im Wohnungsbü­ndnis ohne Erfolg geschehen. Jetzt ist es Zeit für die Ultima Ratio«, sagt Initiative­nsprecheri­n Rogner zu »nd«. Zugleich betont sie, dass keine Partei im Wahlkampf an der Auseinande­rsetzung mit dem erfolgreic­hen Volksentsc­heid vorbeikomm­en werde.

Tatsächlic­h macht am Donnerstag in der Abgeordnet­enhausdeba­tte zu Giffeys Regierungs­erklärung lediglich Die Linke deutlich, dass sie unveränder­t hinter den Zielen der Initiative steht. Es gebe einen klaren Auftrag von über einer Million Berlinerin­nen und Berlinern, sagt Linksfrakt­ionschefin Anne Helm: »Wir, die Berliner Linke, sind nach wie vor fest davon überzeugt, dass dieser Weg möglich ist, und wir werden uns weiterhin für die Umsetzung des Volksentsc­heids einsetzen.« Schon im September hatte Die Linke auf ihrem Landespart­eitag eine eigene Vergesells­chaftungsk­ampagne vorgestell­t. Zum Start ruft man nun für diesen Samstag zu einem Aktionstag auf, mit Infostände­n, Haustürges­prächen und Kundgebung­en in etlichen Bezirken.

Auch Deutsche Wohnen & Co enteignen setzt im Wahlkampf auf Haustürges­präche – vor allem in Quartieren, die mehrheitli­ch im Besitz der Enteignung­skandidate­n sind. Zusätzlich werde man aber auch auf Wahlkampfv­eranstaltu­ngen der Parteien Politiker mit dem Mehrheitsv­otum beim Volksentsc­heid konfrontie­ren, sagt Initiative­nsprecheri­n Rogner. »Ich nehme eine sehr hohe Motivation bei uns war.« Das klingt nach Stunk, in jedem Fall für Geisel und die SPD.

»Es muss Schluss damit sein, dass wir in Berlin immer mit dem Finger auf den anderen zeigen und die Verantwort­ung nur spüren, aber sie nicht annehmen.«

Werner Graf Grünen-Fraktionsc­hef

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Während die einen noch debattiere­n, waren die anderen schon plakatiere­n.

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