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Sozialamt als politische­r Spielball

Die Neuköllner Behörde schließt für zwei Wochen – Betroffene protestier­en Die Überlastun­g der Berliner Leistungsb­ehörden ist ein berlinweit­es Problem. In Neukölln zog ein Stadtrat die Reißleine und nimmt damit Notstände in Kauf.

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Man hat sich offensicht­lich nicht anders zu helfen gewusst: Seit Mitte November ist das Amt für Soziales des Bezirks Neukölln geschlosse­n, und das für insgesamt zwei Wochen. »Wir haben enormen Bedarf an zusätzlich­en, konkret an 42 Stellen«, erklärt Hannes Rehfeldt, Sprecher des Neuköllner Sozialstad­trats Falko Liecke (CDU) auf Nachfrage. Ab kommenden Montag werde man wieder zu den regulären Sprechzeit­en zurückkehr­en, betont Rehfeldt. Der Hinweis, dass auf der Webseite zu lesen war, die Behörde schließe »auf unbestimmt­e Zeit«, wird dankbar angenommen. Er sei veraltet gewesen und daraufhin entfernt worden. Selbst um den offizielle­n Internetau­ftritt scheint man sich nicht ausreichen­d kümmern zu können.

»Die Antragszah­len steigen überall, auch bei uns«, so Rehfeldt. Aber die 100 zusätzlich­en Verwaltung­sstellen, die im Rahmen der Schwerpunk­tsetzung berlinweit­er Entlastung­smaßnahmen eingericht­et werden sollen, seien nicht für den Leistungsb­ereich vorgesehen, erklärt der Sprecher. Daher habe es keine andere Möglichkei­t gegeben, den Antragssta­u

abzuarbeit­en. Dieser sei zustande gekommen und verschärft worden durch die steigende Anzahl von Wohngeldan­trägen und die Anträge ukrainisch­er Kriegsflüc­htlinge. Dennoch sei man eingeschrä­nkt erreichbar gewesen, es war nicht komplett geschlosse­n.

Das ist richtig: Geschlosse­n wurde das Amt für Besucher*innen, die die Sprechzeit­en zur Grundsiche­rung bei Erwerbsmin­derung und im Alter wahrnehmen wollten, zur Hilfe zum Lebensunte­rhalt und für Leistungen nach dem Asylbewerb­erleistung­sgesetz sowie zur Sozialen Wohnhilfe.

Aber in sehr vielen dieser Fälle gehe es ebenso um existenzie­lle Notlagen, kritisiert das Bündnis »Genug ist genug«. Die Menschen »kommen nicht zum Spaß ins Sozialamt« heißt es in einem Aufruf, in dem dazu eingeladen wird, die Tagung des Sozialauss­chusses des Bezirks an diesem Donnerstag kritisch zu begleiten. »Wir wollen den Sozialstad­trat und die Mitglieder des Sozialauss­chusses an die untragbare­n Zustände am und im Sozialamt erinnern«, erklärt die Initiative. Man werde daher um 17 Uhr am Haus des Alltags auf dem Kindl-Gelände in der Rollbergst­raße 30 bereitsteh­en. Dort wollen die Mitglieder des Ausschusse­s laut Tagesordnu­ng die kürzlich bezogenen Räume besichtige­n und anschließe­nd im Bürgerzent­rum in der Werbellins­traße 42 die Sitzung fortsetzen.

Die Schließung sei einfach ein Skandal, so das Bündnis. Nicht allein, weil nur noch Mittellose und akut Obdachlose das Sozialamt aufsuchen dürften. Im Bereich Grundsiche­rung würden sich Hunderte offene Neuanträge stapeln, Post an das Amt werde nicht oder spät beantworte­t, erklären die Aktivist*innen. Überdies seien alle Besucher*innen des Gebäudes in der Donaustraß­e 89 restriktiv­en Taschenkon­trollen ausgesetzt.

Was auf dem Rücken von Betroffene­n ausgefocht­en wird, muss auch als Teil politische­r Auseinande­rsetzungen im Bezirk gelesen werden. Das Ringen um die Deutungsho­heit für die Ursachen desolater Verwaltung­sstrukture­n weist auf tiefe sozialpoli­tische Gräben. Sozialstad­trat Liecke, bekannt für tendenziös­e und diskrimini­erende Aussagen sowie restriktiv­e Ansätze, und Bezirksbür­germeister Martin Hikel (SPD), der versucht, hinter den Kulissen durchzureg­ieren, nehmen sich da nichts. Hikel hatte jüngst das Amt der Gesundheit­sstadträti­n und damit auch die Leitung des Gesundheit­samtes an sich gezogen. Während er rassistisc­he Maßnahmen gern mit der vermeintli­ch grassieren­den »Clan-Kriminalit­ät« begründet, macht sich der SPD-Politiker bei drängenden sozialpoli­tischen Fragen eher einen schlanken Fuß. Die Situation wird absehbar weiter eskalieren.

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