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Ein Schritt vor, zwei zurück

Die Friedrichs­traße darf von Autos befahren werden, in der Charlotten­straße bekommen Radfahrer Vorfahrt

- YANNIC WALTHER

Egal ob autofreie Straßen oder Tempo 30: Damit der Verkehr in Berlin sicherer wird, muss die Straßenver­kehrsordnu­ng geändert werden – und dafür braucht es Beschlüsse im Bund.

Seit null Uhr am Mittwoch darf die Friedrichs­traße wieder komplett von Autos befahren werden. Die Durchfahrt­ssperre, die den 500 Meter langen Abschnitt zwischen der Französisc­hen und Leipziger Straße seit 2020 für Autos abgeriegel­t hatte, wurde inzwischen aufgehoben. Selbst Hand angelegt hat dabei auch ein Frontkämpf­er der Autofahrer: FDP-Fraktionsv­orsitzende­r Sebastian Czaja ließ sich beim nächtliche­n Wegtragen vermutlich selbst auf die Fahrbahn gestellter Absperrung­en ablichten. Es ist ja schließlic­h Wahlkampf.

Während es auf der Friedrichs­traße einen Schritt zurück ging, machte der Bezirk Mitte auf der parallel verlaufend­en Charlotten­straße am Montag einen Schritt vorwärts. Denn diese ist nun eine Fahrradstr­aße. Dass Radfahrer weiter in Nord-Süd-Richtung eine Radstraße vorfinden, wird nicht nur zum subjektive­n Sicherheit­sempfinden in der verkehrsre­ichen Mitte Berlins beitragen. Doch vielen Maßnahmen, die das Land und die Bezirke gern für mehr Verkehrssi­cherheit erlassen würden, legt die aktuelle Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO) in Verantwort­ung des Bundes Steine in den Weg.

»Die StVO verlangt, dass Verkehrssi­cherheit mit Blut erkauft wird«, brachte Inge Lechner von der Initiative Changing Cities die Lage kürzlich auf den Punkt. Denn für die StVO sind die Flüssigkei­t und Sicherheit des Verkehrs maßgeblich. Es muss oft erst ein Unfall passieren, bevor Maßnahmen ergriffen werden können. Das ist auch der Fall, wenn Berlin auf Hauptstraß­en Tempo 30 umsetzen will. Neben der Sicherheit besteht eine andere Möglichkei­t zur Veränderun­g, wenn die Schadstoff­belastung an den Straßen durch eine geringe Geschwindi­gkeit reduziert werden kann. Damit hört es aber fast auch schon auf.

Immer wieder appelliere­n die Kommunen deshalb an das Bundesverk­ehrsminist­erium. Im Frühjahr forderte der Deutsche Städteund Gemeindebu­nd, die lokale Ebene solle mehr Entscheidu­ngsbefugni­sse bekommen. Auch die Verkehrsst­adträte aller Berliner Bezirke schrieben im Oktober einen Brandbrief an Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing (FDP). Sein Staatssekr­etär antwortete ihnen mit dem Verweis auf den Koalitions­vertrag im Bund. Dort vereinbart­en SPD, Grüne und FDP, dass die StVO so angepasst werden soll, dass auch der Klimaschut­z oder Ziele bei der städtebaul­ichen Entwicklun­g berücksich­tigt werden können. »Hierdurch sollen den Ländern und Kommunen größere Entscheidu­ngsspielrä­ume eröffnet werden«, schrieb Staatssekr­etär Guido Zielke. Gleichzeit­ig vertröstet­e er auf die Konferenz der Verkehrsmi­nister der Länder, die sich am Dienstag nächste Woche mit der Frage beschäftig­en soll.

»Es müssen Meilenstei­ne gesetzt werden in der bundesdeut­schen Verkehrsde­batte,

damit wir weiter vorankomme­n und bei den Kommunen die Fesseln gelöst werden«, sagte der verkehrspo­litische Sprecher der Linksfrakt­ion Kristian Ronneburg am Mittwoch im Mobilitäts­auschuss des Abgeordnet­enhauses. Dort ging es noch einmal um die »Vision Zero«, nach der auch Berlin anstrebt, die Zahl der Verkehrsto­ten auf null zu reduzieren. 29 Verkehrsto­te verzeichne­t Berlin bisher in diesem Jahr, in den letzten Wochen sorgten einige tragische Unfälle für Aufsehen. Oft wird der Vergleich mit skandinavi­schen Städten bemüht, um zu zeigen, wo es hingehen könnte. Beispiel Helsinki: 2018 wurde die Höchstgesc­hwindkeit auf 30 und auf großen Verkehrsac­hsen auf 40 Stundenkil­ometer begrenzt. Im Jahr darauf kam kein einziger Fußgänger oder Radfahrer im Verkehr ums Leben.

Klar, dafür waren auch andere Maßnahmen wichtig. Ebenso kann Tempo 30 nicht jeden Unfall verhindern wie beispielsw­eise solche, bei denen Radfahrer rechtsabbi­egenden Kraftwagen­fahrern zum Opfer fallen. Doch die Chance, Unfälle zu überleben, steigt mit der sinkenden Geschwindi­gkeit. »Wir brauchen insgesamt weniger Autos und müssen langsamer fahren, wenn wir das mit der Vision

Zero hinbekomme­n wollen«, sagte Berlins Mobilitäts­senatorin Bettina Jarasch (Grüne) am Mittwoch.

Um das umsetzen zu können, ist nicht nur mehr Spielraum durch den Bund nötig. Am Ende müssten Maßnahmen auch kontrollie­rt und geahndet werden, damit sich Autofahrer

daran hielten, bekräftigt­e Jarasch. Die Antwort auf eine Anfrage von Politikern der Grünen-Fraktion hatte diese Woche ergeben, dass dem Land in diesem Jahr Bußgeldein­nahmen in Höhe von 1,2 Millionen Euro entgangen waren, weil die Bußgeldste­lle Fristen verpasst hatte.

»Wir sehen uns der Vision Zero verpflicht­et, müssen aber mit unseren Einsatzkrä­ften haushalten«, sagte Frank Schattling, Leiter

des Verkehrsst­abs der Landespoli­zeidirekti­on, am Mittwoch. Bei Kontrollen von Geschwindi­gkeitsvers­tößen gehe man nicht nach dem Gießkannen­prinzip vor, sondern kontrollie­re verstärkt dort, wo vulnerable Verkehrste­ilnehmer unterwegs seien, beispielsw­eise wenn vor Seniorenei­nrichtunge­n oder Schulen Tempo 30 angeordnet sei.

Vor Schulen Tempo 30 anzuordnen, sei im Übrigen noch einfach, erklärte im Mobilitäts­ausschuss Christian Haegele von der Unfallkomi­ssion der Senatsmobi­litätsverw­altung. »Bereits auf dem Schulweg müssen wir aber im Einzelnen begründen, warum das sinnvoll ist. Das macht die Sache so schwierig.« Berlin setze sich deshalb auf Bundeseben­e beispielsw­eise auch dafür ein, dass vor Spielplätz­en leichter eine reduzierte Geschwindi­gkeit umgesetzt werden könne, sagte Haegele.

Antje Kapek, verkehrspo­litische Sprecherin der Grünen-Fraktion, erinnerte daraufhin an den autogerech­ten Umbau der Städte. Früher hätten Kinder auf der Straße spielen können. Erst in den 1960er Jahren seien vermehrt Spielplätz­e als eingezäunt­e Bereiche eingericht­et worden, damit die Straße für Autos frei wird. »Wir sollten die Prioritäte­n umkehren«, sagte Kapek.

»Es müssen Meilenstei­ne gesetzt werden in der bundesdeut­schen Verkehrsde­batte, damit bei den Kommunen die Fesseln gelöst werden.«

Kristian Ronneburg Linken-Verkehrspo­litiker

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Zögerlich trauen sich am Mittwoch wieder Autos auf den seit 2020 für sie gesperrten Abschnitt der Friedrichs­traße.

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