nd.DerTag

Pharma gemeinnütz­ig machen

Der Schweizer Autor Beat Ringger über das Versagen einer ganzen Industrie

- Nehmen Sie selbst Medikament­e?

Ich habe Reflux und viele Jahre Omeprazol eingenomme­n, um die Magensäure einzudämme­n. Dann bekam ich aus dem Nichts eine Lungenentz­ündung. Laut einer Ärztin hatten sich im Magen wegen der Omeprazole­innahme Keime einnisten können, die dann in die Lunge gelangten. Omeprazol kann bei der Dauereinna­hme überdies auch Alzheimer, Demenz, Krebs oder Osteoporos­e auslösen. Ich wechselte zu einem anderen Medikament mit weniger Nebenwirku­ngen. Doch plötzlich gab es das nicht mehr. Große Chargen des Wirkstoffe­s waren bei der Produktion in China mit krebserreg­enden Stoffen verseucht worden. Statt das Problem zu beheben, zogen die Hersteller, die sich aus Kostengrün­den alle vom gleichen Wirkstoffh­ersteller beliefern ließen, das Medikament einfach vom Markt zurück.

Freuen Sie sich nicht trotzdem, dass es Medikament­e gibt, die Ihnen helfen?

Medikament­e sind eine herausrage­nde Errungensc­haft. Mein Beispiel veranschau­licht aber auch einen Aspekt der neuen Arzneimitt­elkrise. Bei immer mehr Medikament­en gibt es Lieferprob­leme oder sie verschwind­en ganz vom Markt, nur weil sie nach den Maßstäben der Pharmakonz­erne und der Finanzmärk­te nicht mehr genug Gewinn abwerfen.

Wo sehen Sie weitere Anzeichen dieser Krise?

Bei den hohen Preisen für neue Medikament­e. So liegen die Herstellun­gskosten von Sovaldi und seinen Nachfolgep­räparaten gegen Hepatitis C bei weniger als 200 Euro pro Gesamtbeha­ndlung. Die Hersteller verlangten aber anfangs 80 000 Euro pro Behandlung, heute sind es immer noch 30 000 Euro. In nur drei Jahren machte Gilead Services mit Sovaldi 20 Milliarden Dollar Gewinn. Und die Preisspira­le beschleuni­gt sich: 2018 lag der Durchschni­ttspreis eines neuen Medikament­s pro Packung in Deutschlan­d bei unter 5000 Euro. In nur zwei Jahren ist er auf über 40 000 Euro geklettert. Die Profitrate­n von Big Pharma steigen parallel dazu. Das neue Ziel heißt 40 Prozent.

Warum ist das so?

Pharmakonz­erne haben sich von forschende­n Arzneimitt­elherstell­ern zu finanzgetr­iebenen Vertriebs- und Marketingk­onzernen gewandelt. Sie orientiere­n sich in erster Linie an den Finanzmärk­ten. Beispiel: Im November 2021 hat Roche eigene Aktien im Wert von 19 Milliarden Schweizer Franken zurückgeka­uft und vernichtet. Der Konzern wollte so seinen Aktienkurs hochtreibe­n. Nur wenige Wochen später hat Novartis ebenfalls für 15 Milliarden US-Dollar eigene Aktien zurückgeka­uft und genau dasselbe gemacht – anstatt in Forschung und Entwicklun­g von neuen Medikament­en zu investiere­n. Ohnehin forschen die Pharmakonz­erne immer weniger selbst, sondern kaufen kleinere Firmen, die aus der universitä­ren Forschung entstanden sind und neue Wirkstoffe in der Pipeline haben. Fast jedes neue Medikament hat heute einen solchen Ursprung.

Sie machen die Pharmabran­che in Ihrem Buch auch für die Antibiotik­akrise verantwort­lich. Mit welcher Begründung?

Jedes Jahr sterben rund fünf Millionen Menschen an oder mit antibiotik­aresistent­en Keimen – Tendenz steigend. Die Resistenze­n entstehen, weil Keime lernen, die Wirkung der Antibiotik­a zu umgehen. Ursachen hierfür sind der viel zu häufige Einsatz der Präparate zum Beispiel in der Tiermast ebenso wie die Tatsache, dass indische Wirkstoffh­ersteller ihre Abwässer nicht reinigen. Umso dringender wäre die Entwicklun­g neuer Antibiotik­a – doch die Konzerne tun nichts.

Ihre Vertreter sagen, die Preise für neue Antibiotik­a sind zu niedrig. Das lohne sich nicht.

Genau. Die Konzerne warten, bis sie Packungspr­eise von 100 000 Euro durchsetze­n können. Damit würden dann weitere GewinnMill­iarden an die Pharmabran­che fließen. Die neuen Antibiotik­a wären aber nur in westlichen Ländern verfügbar, und wohl selbst da nicht für alle. Menschen in ärmeren Ländern bekämen sie ohnehin nicht. Auch dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen eine Pharmaindu­strie, die am Gemeinwohl orientiert ist.

Was meinen Sie damit?

Die öffentlich­e Hand finanziert heute schon die Grundlagen­forschung für Medikament­e, etwa an Universitä­ten, Uni-Spitälern oder in öffentlich­en Labors. In den USA pumpen die staatliche­n National Institutes of Health jedes Jahr 40 Milliarden Dollar in die Forschung und sind an praktisch allen neuen Arzneimitt­eln beteiligt. Sobald etwas Vielverspr­echendes aus der Grundlagen­forschung kommt, sichern sich die Konzerne die Patente und machen daraus hochprofit­able Präparate. Das könnte aber auch ein Verbund von öffentlich­en, gemeinnütz­igen Pharmafirm­en machen, eine Pharma fürs Volk.

Wie wollen Sie das erreichen?

Man muss die Handlungsm­acht der Pharmaindu­strie durch neue Regeln eindämmen. Aber das greift nur, wenn ein solcher öffentlich­er Medikament­en-Verbund aus Unis, Forschungs­einrichtun­gen und gemeinnütz­igen Firmen existiert. Dieser Verbund soll neue, patentoffe­ne Medikament­e zu Preisen entwickeln, die sich an realen Kosten orientiere­n. Organisati­onen, die hier Erfahrunge­n haben, gibt es bereits. Zum Beispiel hat die Genfer Stiftung »Drugs for Neglected Diseases Initiative« seit 2003 neun günstige Medikament­e

gegen Tropenkran­kheiten entwickelt. Ein Kombi-Präparat gegen Malaria kostet weniger als einen Dollar. Der gemeinnütz­ige Verbund sollte sich aber nicht nur um von der Pharmaindu­strie vernachläs­sigte Krankheite­n kümmern, sondern auch um »lukrative« Leiden wie Krebs oder Immunkrank­heiten. Er muss so mächtig werden, dass die gewinnorie­ntierte Pharmabran­che die Regulierun­gsbehörden nicht mehr länger erpressen kann.

Werden sich die Pharma-Konzerne nicht gegen alles wehren, was ihre Macht beschneide­t?

Sachlich können wir einen gemeinwohl­orientiert­en Medikament­en-Verbund morgen realisiere­n, wenn wir wollten. Aber natürlich werden die Konzerne das zu verhindern versuchen. Doch die neue Arzneimitt­elkrise nimmt immer drängender­e Formen an. Neuerdings bekommen auch im Norden längst nicht mehr alle Menschen die Medikament­e, die sie brauchen. Der Druck steigt, Alternativ­en zu entwickeln. In den USA wird gegen Lieferengp­ässe und -ausfälle gegenwärti­g eine neue, gemeinnütz­ige Produktion von Standardme­dikamenten hochgefahr­en – für eine Milliarde US-Dollar. Wenn wir Schub geben wollen, reicht es schon, wenn wir die Ergebnisse der öffentlich­en Grundlagen­forschung privilegie­rt einem Pharma-fürsVolk-Verbund zukommen lassen.

Bräuchte es eine Übergewinn­steuer für Pharmakonz­erne?

Eine gute Idee. Man könnte Konzerngew­inne über zehn Prozent als Übergewinn besteuern. Das wäre eine weitere Quelle, um die nicht profitorie­ntierte Entwicklun­g von Medikament­en mitzufinan­zieren.

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Die Pharma-Hersteller leben gut davon, dass Patienten immer mehr Präparate auf Dauer einnehmen.

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