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In größter Not

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Virgil Wounded Knee arbeitet als privater »Vollstreck­er« im RosebudRes­ervat im US-Bundesstaa­t South Dakota. Für ein paar Hundert Dollar bricht der Hüne Vergewalti­gern die Finger – und verschafft ihren Gewaltopfe­rn so vielleicht etwas Gerechtigk­eit. Denn Beamte der Bundespoli­zei FBI lassen sich im Reservat selten blicken. Viele Straftaten bleiben ungesühnt, die Opfer sich selbst überlassen. Die Aufträge sichern Virgil ein mageres Auskommen. Er haust zusammen mit seinem 14-jährigen Neffen Nathan, Sohn seiner verstorben­en Schwester, in einer Baracke. Sie leben von der Hand in den Mund. Virgil selbst hat keine Ambitionen – außer einer: Er will Nathan ein gutes Zuhause bieten und ihn vor den Gefahren schützen, die um ihn herum lauern.

Eines Abends findet Virgil Nathan bewusstlos in seinem Bett – eine Überdosis Heroin. Er alarmiert die Ambulanz, belebt seinen Ziehsohn wieder und rettet ihn. Und er nimmt vom Chef der Behörden des Reservats den Auftrag an, die Dealer aufzuspüre­n. Er fährt nach Denver. Seine Ex-Freundin Marie begleitet ihn. Virgil legt sich mit dem mexikanisc­hen Azteken-Kartell an, das sich anschickt, das Reservat mit Heroin zu fluten, und schon mal mit den Schulhöfen anfängt.

David Heska Wandbli Weiden nimmt sich in seinem Debütroman viel Zeit für die Einführung der Personen und das Auslegen der Handlungsf­äden. Das wirkt lange spannungsa­rm, bis die Handlung im letzten Viertel quasi explodiert – und in einem Showdown gipfelt. Der Autor schaut genau hin, beschreibt präzise. »Winter Counts« liefert so überrasche­nde Einblicke in eine ansonsten hermetisch verschloss­ene Welt. Der Autor ist selbst Bürger der Sicangu Lakota Nation und lebte lange in Reservaten. Viele Bewohner sind arbeitslos, von psychische­n Problemen geplagt und den Traditione­n ihrer Vorfahren entfremdet. Die Suizidrate ist hoch – Spätfolgen des Genozids durch die weißen Kolonisato­ren. »Winter Counts« überzeugt durch eine geschickte Mischung aus knallharte­m Kriminalro­man und genauer Erkundung der Lebenswelt der Native Americans: Der Roman hat mehrere Literatur- und Krimipreis­e gewonnen – und war für den Edgar Award nominiert, den wichtigste­n US-Krimi-Preis.

Vor allem aber berührt »Winter Counts« durch einen Protagonis­ten, der eine Katharsis durchlebt. Virgil hat sich schon als Jugendlich­er von den alten Stammestra­ditionen abgewandt. Doch in der größten Not besinnt er sich auf seine indigene Identität – bestärkt durch seine Doch-wieder-Freundin Marie, eine Aktivistin, die die indigene Küche wiederbele­ben will. Virgil reinigt Kopf und Körper in der Schwitzhüt­te, lässt sich auf die YuwipiRitu­ale des Medizinman­ns ein und folgt seinen Visionen. So findet er auch die Lösung des Falls. Und am Schluss schenkt er im Kampf seinem ärgsten Widersache­r das Leben, die größte Tugend eines Lakota. Breitinger

David Heska Wandbli Weiden: Winter Counts. A. d. amerik. Engl. v. Harriet Fricke. Polar-Verlag, 462 S., br., 16 €.

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