nd.DerTag

Ilja – so hieß sonst niemand

Zu seinem 70. Geburtstag veröffentl­icht Ilja Richter ein Buch mit »Porträts von Menschen, die mich prägten«

- ALFONS HUCKEBRINK Ilja Richter: Nehmen Sie’s persönlich. Porträts von Menschen, die mich prägten. Elsinor-Verlag, 176 S., geb., 19 €.

Im Frühjahr 1969 schwappt der Aufruhr von den Unis auf die Schulhöfe über. Im Fernsehen befeuern Thundercla­p Newman den »Beat-Club« und singen: »Hand out the arms and ammo / We’re gonna blast our way through here«. Der Sound der Revolte, aufgeladen durch das ruppigste Piano-leadriff der Popgeschic­hte. Rote Banner werden aus Klassenfen­stern entrollt, in vollem Ernst. »Brecht dem Establishm­ent die Gräten – alle Macht den Schülerrät­en« wird an ehrwürdige Schulgemäu­er gepinselt. Im Unterricht werden die Lehrer durch erlesene KlassikerZ­itate nicht nur verunsiche­rt, sondern zur Weißglut gebracht. Der Klassenleh­rer empfiehlt jedoch uns zur Abkühlung den neuen Film von Peter Zadek, »Ich bin ein Elefant, Madame«. Am Maifeierta­g starten wir, nervöse Untersekun­daner, unsere frisierten Velo Solex zum Kinobesuch in Münster. Der Film erzählt die Geschichte einer Revolte an einem Bremer Gymnasium. Ilja Richter, mein Altersgeno­sse, tritt darin nicht groß in Erscheinun­g, vorwiegend feixend und irgendwie weltfremd: als Schüler Haverkamp der zweiten Bankreihe verhaftet. Eine Rolle, mit der ich mich damals identifizi­eren kann.

Der »Beat Club« wurde von Radio Bremen produziert. Am Samstagabe­nd jagt die Sendung meine Eltern aus der Fernsehstu­be. Und Ilja Richter taucht im ZDF auf, als Moderator von »4-3-2-1-Hot and Sweet«, ein biederes Format, in dem nur Richter neue Maßstäbe setzt – als jüngster Moderator des Landes. Ihm ist die Schweizer Sängerin Suzanne Doucet als eine Art große Schwester beigesellt. Für die Nachfolges­endung »Disco« wird er allein besetzt, ohne sie. In seinem neuen Buch »Nehmen Sie’s persönlich«, ein autobiogra­fisches Kaleidosko­p aus verschiede­nen Begegnunge­n, bekennt er: »Dass ich später, gerade mal siebzehn, mit ansah, wie sie, die mich als Co-Moderator vorgeschla­gen hatte, vom ZDF zu meinen Gunsten weggeschic­kt wurde, nehme ich mir mit siebzig noch krumm.« Die Sendung läuft von 1971 bis 1982.

Wenn der »Beat Club« kommt, dann geht mein Vater hin und wieder zurück ins Wohnzimmer, um einen verstohlen­en Blick auf Uschi Nerke, die Moderatori­n im Minirock, zu werfen. Doch Ilja Richter fand er unmöglich: »Der gehört doch in Klapse!« Die damaligen Jugendlich­en waren langhaarig­e Hippies, aber Ilja Richter war geschniege­lt und gebügelt und glamourös. Dessen Modernität fand mein Vater, der in der Textilbran­che schuftete, bedrohlich. Ilja in 133 »Disco«-Folgen: strahlend, schwebend, eloquent, eine ephemere Erscheinun­g. Er bringt Sketche, Parodien und Couplets. Ein öffentlich-rechtliche­r Kobold, der sich aber seiner Grenzen wohl bewusst ist: »Nichts gegen die Kirche, Parteien, Ehe und schon gar nichts, was Sie schon immer über Sex wissen wollten.«

In seinem neuen Buch versammelt Ilja Richter »Porträts von Menschen, die mich prägten«, so der Untertitel. Oft sind es Texte über Kolleg*innen aus der Branche, aber auch Janus Korczak, Mary Gerold-Tucholsky, Rudi Dutschke, Georg Stefan Troller werden ins Licht gerückt. Jan Böhmermann kommt gar nicht gut weg. Sein »Schmähgedi­cht auf Erdoğan hätte in seiner plumpen Eindimensi­onalität gerade mal für den Verweis des Klassenleh­rers an den Pausenclow­n gelangt.« Stattdesse­n gab es den Grimme-Preis 2016.

Trotz der 13 Lustspielf­ilme, die er drehte und der nach wie vor im Internet verfügbare­n Albernheit­en in Frauenklei­dern resümiert er heute: »Ich lebe gut mit meiner Vergangenh­eit, aber ich lebe nicht in ihr.« Er nimmt Abschied vom Berufsjuge­ndlichentu­m und wendet sich dem Kabarett zu, singt Georg Kreisler-Lieder. Als er 1983 in Westberlin gegen Cruise Missile und Pershing-Raketen

auf der Bühne steht, machen sich die Medien über ihn lustig. Den Friedens-Richter lassen sie nicht durchgehen. Sein väterliche­r Freund, der Schauspiel­er und Antifaschi­st Curt Bois tröstet ihn: »Es wird wieder Herbst und die Blätter fallen über uns her.« Nicht nur ihm gilt Richters innige Zuneigung. Auch Theo Lingen, der seine jüdische Schwiegerm­utter aus der Deportatio­nshaft rettete und dafür zu Goebbels ging. Der sagte zu ihm: »Wir wissen genau, lieber Herr Lingen, mit wem wir es zu tun haben. Aber solange die Soldaten an der Front über Sie lachen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«. Oder der Schlagersä­nger Chris Roberts, geboren 1944 als Christian Klusáček, staatenlos bis kurz vor seinem Tod 2017: Er »verkörpert­e eine Art Unschuld, die diese Republik nie gehabt hatte.« Wegen derartiger, fein formuliert­er Reminiszen­zen ist dieses Buch Aufklärung, meinungsst­ark, mitfühlend, mitunter mühelos witzig.

Was mich 1969 irritierte, war sein Vorname: Ilja. So hieß sonst niemand, ein veritables Alleinstel­lungsmerkm­al. Jungen wurden damals Hart- oder Helmut getauft oder, wenn Extravagan­z verzagt anklingen sollte, Martin oder Markus. Später las ich Ilja Ehrenburgs Roman »Der Fall von Paris« und erfuhr auch irgendwann, dass Ilja Richters Eltern ihn nach diesem sowjetisch­en Schriftste­ller benannt hatten, den sie bewunderte­n. Der Vater Georg, Kommunist und Widerstand­skämpfer, war neuneinhal­b Jahre eingesperr­t, u.a. im Außenlager Kaltenkirc­hen des KZ Neuengamme. Sein Vater rät

ihm, darüber zu schweigen. Er fürchtet, seine Vergangenh­eit würde Iljas Karriere schaden. Die Mutter Eva ist Jüdin, die mit gefälschte­r »Arier«-Identität sich und ihrem ersten Kind, Iljas älterem Bruder, das Leben rettet. Seine jüdische Großmutter aber, eine »kaisertreu­e Kleinbürge­rin«, wird 1944 in Auschwitz ermordet. Nazis treten ihr 1943 in Berlin-Mitte die Tür ein und »zerren die alte Frau auf die Straße, schütten ihr einen Eimer Wasser über den Kopf, als sie sich zu Boden wirft, weil sie nicht in den Lastwagen steigen will. So war das damals […] und alle haben es gesehen.«

Die Familie siedelt in die DDR über, nach Ostberlin, wo Ilja 1952 geboren wird. Georg Richter ist Musikredak­teur beim Rundfunk, Eva Sekretärin bei der Komischen Oper. Als sie sich im israelisch­en Generalkon­sulat nach den Modalitäte­n für eine Ausreise erkundigen, bekommen sie berufliche Schwierigk­eiten und gehen 1953 nach Westberlin.

»Für den einzigen Ilja meines Lebens«, lautet die Widmung, die ihm Manfred Krug 2008 in seinen Band »66 Gedichte, was soll das?« gekritzelt hat. Mir ist er der erste gewesen. Heute wird er 70 und lässt sich immer noch ungern duzen. Es war ein langer Weg vom Schüler Haverkamp zum Standing des einzigarti­gen Ilja Richter. »We got to get together sooner or later« – auch Thundercla­p Newmans »Something in the air« wird bei Youtube noch fleißig angeschaut.

»Ich lebe gut mit meiner Vergangenh­eit, aber ich lebe nicht in ihr.«

Ilja Richter

 ?? ?? Ein Prost auf Ilja Richter! So wie Telly Savalas (l.) 1975 mit ihm in seiner Sendung »Disco« anstieß.
Ein Prost auf Ilja Richter! So wie Telly Savalas (l.) 1975 mit ihm in seiner Sendung »Disco« anstieß.

Newspapers in German

Newspapers from Germany