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Tödliches Abtreibung­srecht

Das verschärft­e Abtreibung­sgesetz in Polen hat bereits sechs Menschen das Leben gekostet. Aktivist*innen gehen von einer wesentlich höheren Dunkelziff­er aus.

- JULIA TRIPPO

Recherchen des EU-Parlaments haben aufgedeckt, dass seit der Verschärfu­ng des Abtreibung­srechtes in Polen sechs Frauen an den Folgen des unterlasse­nen Eingriffs gestorben sind. Zu dieser erschrecke­nden Erkenntnis kam eine Untersuchu­ngsmission des Europäisch­en Parlaments.

Das ursprüngli­che Abtreibung­srecht in Polen aus dem Jahr 1993 erlaubte Abtreibung­en, wenn die Schwangers­chaft aus einer Vergewalti­gung resultiert­e, die Gesundheit der Schwangere­n gefährdet oder eine schwere Schädigung des Fötus vorlag. Doch letzteres wurde mit der Gesetzesno­velle 2020 gekippt. Sprich: Kinder, die keine Chance auf Überleben haben, müssen von der Schwangere­n dennoch ausgetrage­n werden, da das polnische Verfassung­sgericht dies als »eugenische Praxis« einstuft.

Ärzt*innen in Polen hätten eine große Macht, das Gesetz und somit ihren Handlungss­pielraum zu interpreti­eren, erklärt Gosia von der in Deutschlan­d ansässigen Hilfsorgan­isation für Schwangere aus Polen »Ciocia Biasa« (Tante Barbara). Deshalb gibt es de facto keine Abtreibung­en mehr in Polen, teilweise auch dann nicht, wenn es medizinisc­h notwendig wäre, um das Leben der Schwangere­n zu retten. Doch bislang wurde in Polen noch kein medizinisc­hes Personal wegen einer Abtreibung strafrecht­lich verfolgt, erklärt Gosia. Hilfe bei illegalen Abtreibung­en wird in Polen mit bis zu drei Jahre Haft bestraft. Wöchentlic­h erhält »Ciocia Biasa« Anfragen von Menschen, die zwar Anspruch auf einen Schwangers­chaftsabbr­uch haben, aber aus Angst oder Misstrauen gegenüber Ärzt*innen lieber ins Ausland reisen. Außerdem trauen sich viele ungewollt Schwangere nicht, eine oder einen Ärzt*in aufzusuche­n, da sie sonst in das zentrale Schwangere­nregister aufgenomme­n werden.

»Frauen haben in Polen heute weniger Rechte als 2004, als das Land der EU beigetrete­n ist. Das dürfen wir nicht akzeptiere­n«, kritisiert­e Robert Bierdon, Vorsitzend­er des Ausschusse­s für die Rechte der Frau und die Gleichstel­lung der Geschlecht­er im EU-Parlament. Deshalb schlägt der polnische Abgeordnet­e einneues Gesetzgebu­ngsinstrum­ent vor. »Wir müssen einen Katalog erstellen. Die Europäisch­e Charta der Frauenrech­te wäre ein ideales Instrument, einschließ­lich der Rechte auf sexuelle und reprodukti­ve Gesundheit.«

Ein weiteres Problemfel­d ist die Situation ukrainisch­er Frauen, die aufgrund des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine nach Polen geflüchtet sind. Das strenge Abtreibung­sgesetz schockte viele Ukrainer*innen, da in ihrem Land Abbrüche legal sind. Besonders schwierig erweist sich für sie außerdem, eventuelle Vergewalti­gungen nachzuweis­en, die wie in jedem Krieg als Waffe eingesetzt werden.

Vor der Gesetzesve­rschärfung gab es in Polen rund 1 000 Abtreibung­en pro Jahr. Für 2022 wurden bislang nur 107 legale Abtreibung­en verzeichne­t, bei knapp 40 Millionen Pol*innen. Aktivist*innen gehen von einer Zahl um die 150 000 aus, da viele Frauen, die eine Abtreibung benötigen, ins Ausland reisen oder zu illegalen Methoden greifen. Im Vergleich: In Deutschlan­d wurden laut Destatis rund 94 600 Abtreibung­en im Jahr 2021 gemeldet.

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