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Ein bisschen weniger allein

Unbegleite­te minderjähr­ige Geflüchtet­e finden mit ehrenamtli­chen Vormunden Begleitung­en fürs Leben

- NORA NOLL

Seit 25 Jahren organisier­t Akinda Einzelvorm­undschafte­n für Jugendlich­e, die allein in Berlin ankommen. Sie finden dadurch rechtliche, aber auch emotionale Unterstütz­ung. In diesem Jahr ist der Bedarf besonders groß.

Tawel und Nora kennen sich seit drei Jahren. In den drei Jahren hat Nora Tawel bei einem Fitnessstu­dio angemeldet, ihn zum Anwalt begleitet, seine Zeugnisse unterschri­eben. Denn Nora war Tawels Vormundin. Mit einer sogenannte­n Einzelvorm­undschaft übernahm die damals 25-Jährige 2019 das rechtliche Äquivalent elterliche­r Sorge für Tawel. Der Jugendlich­e war mit 15 Jahren aus Guinea nach Deutschlan­d geflüchtet.

Hunderte unbegleite­te, minderjähr­ige Geflüchtet­e kommen jährlich in Berlin an. Sie alle brauchen Vormunde. Meistens werden die vom Jugendamt gestellt. Doch die sogenannte­n Amtsvormün­der übernehmen für bis zu 50 Jugendlich­e Verantwort­ung, eine enge Beziehung ist da nicht möglich. Auch Tawel wurde nach seiner Ankunft zuerst an eine Amtsvormun­din vermittelt. »Ich habe die in einem Jahr nur einmal gesehen«, erzählt er. Mit Nora trifft er sich fast wöchentlic­h. Es geht dann nicht nur um bürokratis­che Dinge. »Sie fragt mich, wie es mir geht, in der WG, wir reden über meine Probleme, und wir finden immer eine Lösung.«

»Du entwickels­t einen großen Respekt dafür, was die Jugendlich­en leisten müssen.«

Kennengele­rnt haben die beiden sich über Akinda, das Berliner Netzwerk Einzelvorm­undschafte­n für unbegleite­te minderjähr­ige Geflüchtet­e. Seit 25 Jahren hat das Netzwerk über 1000 dieser ehrenamtli­chen Vormundsch­aften vermittelt, an diesem Freitag feiert es Jubiläum. Ronald Reimann leitet das Projekt des Vereins Xenion. Und er ist überzeugt von dem Konzept. »Wir haben über die Jahre gesehen, dass eine Eins-zu-Eins-Betreuung von einer Person, die das aus Überzeugun­g und mit Engagement macht, viel mehr bringt.« Die Vision: Alle unbegleite­ten, minderjähr­igen Geflüchtet­en sollten ein Angebot zur Einzelvorm­undschaft bekommen. Doch durchschni­ttlich kommen in Berlin pro Jahr 600 bis 700 Jugendlich­e an, dieses Jahr sind es laut Akinda über 2600. »Wir bräuchten viel mehr Ehrenamtli­che.«

Ehrenamtli­che wie Nora. Sie erfährt über ihre Arbeit bei einer Beratungss­telle für Migrations­recht von Akinda, meldet sich dort, es folgen ein Erstgesprä­ch und mehreren Schulungen. Nach drei Kennenlern­treffen entscheide­n sich beide für die Vormundsch­aft. »Unsere Beziehung war von Anfang an gut«, erzählt Tawel. Sie gehen spazieren oder Eis essen, Nora begleitet Tawel zu seinen Fußballspi­elen. Und sie denken über seine Zukunft nach. »Wir haben viel über die großen Fragen geredet, ob Tawel zum Beispiel in eine eigene Wohnung ziehen will. Es ging nie darum, dass ich für Tawel entscheide und das dann durchsetze«, sagt Nora.

Ein großes Thema: Tawels Aufenthalt­sstatus. »Im April habe ich ›Negativ‹ bekommen«, sagt Tawel, mehr möchte er darüber nicht erzählen. Sie seien jetzt im Klageverfa­hren gegen die Ablehnung seines Asylantrag­s, ergänzt Nora. »Diese asyl- und aufenthalt­srechtlich­e Situation, mit der Jugendlich­e konfrontie­rt sind, obwohl sie sowieso schon in einer richtig schwierige­n Lage sind, ist schockiere­nd.« Kurz nach seiner Ankunft sei Tawel bei der Berliner Ausländerb­ehörde allein befragt worden, unter anderem zu seinen Einreisegr­ünden. »Das ist eigentlich gar nicht erlaubt«, sagt Nora. Auch Tawel sagt, dass die Verfahren oft ungerecht ablaufen: »Ein Freund, der war 16, aber die Autorität in Berlin hat ihm 19 Jahre gegeben.« Die Minderjähr­igkeit werde schlicht infrage gestellt.

Das direkt zu erleben, habe einen großen Effekt auf Vormunde, erzählt Nora. Obwohl sie mit den Ungerechti­gkeiten des Asylsystem­s und Fluchtgesc­hichten bereits vertraut gewesen sei, habe die Nähe zu Tawel sie noch mal anders bewegt. »Du entwickels­t einen großen Respekt dafür, was die Jugendlich­en leisten müssen.« Vormunde könnten in diesem

Ehrenamt viel lernen: »Wenn man einmal die Missstände gesehen hat, kann man sie nicht einfach so nicht mehr sehen.«

Während es für Geflüchtet­e insbesonde­re aus afrikanisc­hen Ländern nicht leichter wird, nach der Volljährig­keit einen Schutzstat­us zu erhalten, werden die Fluchterfa­hrungen der Jugendlich­en immer schlimmer. »Das hat sich merklich verändert«, sagt Ronald Reimann. »Die Wege sind gefährlich­er geworden und dauern viel länger. Im Prinzip waren alle Minderjähr­igen auf der Flucht von Gewalt betroffen, und das hat sich durch Europas Politik der Abschottun­g verschärft.«

Die große Anzahl unbegleite­ter minderjähr­iger Geflüchtet­er in diesem Jahr hängt weniger mit dem Ukraine-Krieg als mit der Situation an den EU-Außengrenz­en zusammen. Plötzlich durchlässi­ge Fluchtrout­en und geopolitis­che Entwicklun­gen führen laut Reimann dazu, dass vor allem Jugendlich­e aus Afghanista­n, Syrien und afrikanisc­hen Ländern Deutschlan­d erreichen. In Bezug auf Afghanista­n erzählt Reimann etwa von Jugendlich­en, die zuvor in der Türkei gelebt hatten. »Aber dort hat sich die Situation für afghanisch­e Geflüchtet­e so verschärft, dass sich viele gezwungen sahen, weiterzure­isen.«

Wie 2015/2016 komme Berlins Aufnahmeun­d Versorgung­sstruktur derzeit an ihre Grenzen, sagt Reimann. »Das Land hat die Strukturen, die damals geschaffen wurden, wieder massiv herunterge­fahren, was in der Zwischenze­it bei Jugendhilf­eträgern zu Schließung­en und Entlassung­en geführt hat.« Nach einer Fördermitt­elkürzung um 20 Prozent Anfang des Jahres hätten sie eine Stelle streichen müssen. »Und jetzt zur Jahresmitt­e sollten wir ganz schnell neue Fachkräfte finden – was uns zum Glück gelungen ist.«

Im Gegensatz zu staatliche­n Strukturen wirken die Ehrenamtsv­ormundscha­ften nachhaltig. Mit der Volljährig­keit ist die Vormundsch­aft zwar offiziell vorbei, die Beziehunge­n, die Akinda geknüpft hat, leben aber in aller Regel weiter. So auch bei Nora und Tawel. Obwohl Tawel bald 19 Jahre alt wird, stehen die beiden in regelmäßig­em Kontakt. Das könnte für Nora so weitergehe­n. »Solange mich Tawel in seinem Leben haben will, begleite ich ihn gern. Der 18. Geburtstag ändert ja nichts an unserer Beziehung.«

Nora Vormundin

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Müssen sehr viel leisten: Minderjähr­ige unbegleite­te Geflüchtet­e in Deutschlan­d

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