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Die Bahn-Infrastruk­tur ist ausgereizt

Vor fünf Jahren ist das Ausbauprog­ramm i2030 gestartet – nun trägt es erste, sehr kleine Früchte

- NICOLAS ŠUSTR

Zum Fahrplanwe­chsel im Dezember wird das Regionalzu­gangebot in Berlin und Brandenbur­g deutlich wachsen. Wesentlich mehr wird erst möglich sein, wenn die Infrastruk­tur ausgebaut ist. Das wird noch einige Jahre dauern.

Fast enthusiast­isch blickt Berlins Mobilitäts­senatorin Bettina Jarasch (Grüne) auf den am 11. Dezember anstehende­n Fahrplanwe­chsel. »Zusätzlich­e Strecken, Taktverdic­htungen, Kapazitäts­ausbau durch mehr Wagen« bringe das neue »Netz Elbe-Spree« für die Region. Bis zu drei Züge pro Stunde werden künftig auf dem RE1 zwischen Frankfurt (Oder), Berlin, Potsdam und Brandenbur­g/Havel verkehren, der RE2 nach Cottbus erhält endlich mehr Wagen, eine neue Linie RE8 sorgt für vier statt bisher drei Regionalzü­ge pro Stunde zwischen Berlin und Nauen – das sind unter anderem die herausrage­ndsten Verbesseru­ngen für Pendler in der Region.

»Das Ganze ist ein sehr komplexes Projekt gewesen, für das es erstmals auch eine Machbarkei­tsstudie als Grundlage gab, weil wir es insgesamt im Bahnknoten Berlin mit einer sehr gut genutzten Infrastruk­tur zu tun haben, die auch an vielen Stellen an ihre Grenzen kommt«, sagt Jarasch bei der Sitzung des Mobilitäts­ausschusse­s des Abgeordnet­enhauses am Mittwoch. Sie erhoffe sich, dass deutlich mehr Pendlerinn­en und Pendler »ihr Auto stehen lassen und sich entscheide­n, dann doch mit der Bahn zu kommen«. Denn mit dem dichteren Netz, zusammen mit dem 49-Euro-Ticket, dem deutschlan­dweit gültigen Nahverkehr­s-Abo, das voraussich­tlich 2023 kommt, werde es ein »deutlich verbessert­es Angebot« geben.

Tatsächlic­h materialis­ieren sich zum Fahrplanwe­chsel auch erstmals Projekte aus dem Eisenbahn-Infrastruk­turprogram­m i2030. Vor fünf Jahren unterzeich­neten der Verkehrsve­rbund Berlin-Brandenbur­g (VBB), die Verkehrsmi­nisterinne­n der beiden Länder sowie die Deutsche Bahn die Vereinbaru­ng. Berlin und Brandenbur­g finanziere­n die Planung von Eisenbahnk­orridoren vor, die ausgebaut werden müssen, um das Angebot im Nahverkehr verdichten zu können, so die Idee. Sobald

Geld vom Bund da ist, kann sofort die Realisieru­ng solcher sogenannte­n Schubladen­projekte angegangen werden.

Ein paar Meter Bahnsteigv­erlängerun­gen an einigen Stationen entlang des RE1-Ostastes zwischen Berlin und Frankfurt (Oder), die nun gebaut worden sind, damit die ab dem Fahrplanwe­chsel längeren Züge auch halten können, sind es, die Sebastian Ulrich befriedigt sagen lassen: »i2030 ist aus der Papierphas­e herausgeko­mmen.« Der VBB-Programmle­iter des Ausbauvorh­abens sagt das am Montagaben­d beim Eisenbahnw­esen-Seminar der Technische­n Universitä­t Berlin. Im Frühjahr 2023 soll in Königs Wusterhaus­en ein neues Wendegleis für die dort endenden Regionalba­hnen in Betrieb gehen. Bisher blockieren sie die Durchfahrt von und nach Cottbus.

Es sind kleine Anfänge eines Riesenproj­ekts. Bis zu 180 Kilometer Strecke und 100 Bahnhöfe sollen reaktivier­t, aus- oder neugebaut werden. Rund 8,5 Milliarden Euro an Planungs- und Baukosten sind veranschla­gt – eine Zahl, die angesichts der rasanten Baukostens­teigerunge­n wohl überholt ist, wie Sebastian Ulrich einräumt.

Immerhin 130 Millionen Euro für Planungsko­sten sind bereits von den Ländern bereitgest­ellt worden. Unter anderem für die Reaktivier­ung der Berliner Siemensbah­n von Jungfernhe­ide nach Gartenfeld sowie zusätzlich­e Gleise, Weichen und Signale bei der SBahn – oder den bis zu sechsgleis­igen Ausbau der Strecke von Berlin-Spandau nach Nauen. »Der Bund hat zunehmend sehr großes Interesse an der Strecke, was uns sehr entgegenko­mmt, was die Finanzieru­ng angeht«, sagt Ulrich. Schließlic­h geht es dabei auch um die ICE-Strecken nach Hamburg und Hannover.

Dass dringend etwas passieren muss, ist klar. »Wir kriegen den vierten Zug pro Stunde nach Nauen, aber alles humpelt sich so zusammen«, beschreibt Sebastian Ulrich das Problem, dass wegen der Streckenau­slastung kein gleichmäßi­ger Takt möglich ist. Teilweise brauchen Regionalzü­ge künftig auch mehrere Minuten länger als bisher, weil ein größerer zeitlicher Puffer an manchen Bahnhöfen notwendig ist, um den Verkehr abwickeln zu können.

»Hunderttau­sende Menschen können mit der S-Bahn westlich von Spandau abgeholt werden«, sagt der VBB-Mann über die Perspektiv­e für die Strecke ins Havelland. »Die Busse fahren derzeit Stoßstange an Stoßstange«, so die aktuelle Situation vor dem Bahnhof Spandau. Das dürfte auch auf absehbare Zeit so bleiben. Eine Fertigstel­lung wird erst in der zweiten Hälfte der 2030er Jahre erwartet.

Vom politische­n Beschluss bis zur Realisieru­ng vergehen in Deutschlan­d bei großen Infrastruk­turprojekt­en in der Regel 20 Jahre. Selbst etwas scheinbar Simples wie die Wiederinbe­triebnahme einer größtentei­ls vorhandene­n Strecke wie bei der Siemensbah­n wird erst für das Jahr 2029 angepeilt.

»Man verschenkt viel Zeit, indem man die Öffentlich­keit spät beteiligt. Wenn die Einwände erst kurz vor der Genehmigun­g kommen, muss im Zweifelsfa­ll sehr aufwendig und zeitintens­iv umgeplant werden«, sagt Lasse Hansen am Dienstagab­end bei einem Online-Vortrag des Berliner Verkehrspo­litischen Informatio­nsvereins. Ein bis zwei Jahre ließen sich seiner Ansicht nach bei frühzeitig­erer Beteiligun­g bei der Planung sparen.

Noch in diesem Jahr soll die Finanzieru­ngsvereinb­arung für die Planung des Wiederaufb­aus der Potsdamer Stammbahn als Regionalba­hn unterzeich­net werden. Die Verbindung von Potsdam und Berlin über Zehlendorf soll den ganzen Bahnknoten entlasten, auch durch eine Weiterführ­ung eines Zweiges entlang der südlichen Ringbahn über das Süd- zum Ostkreuz.

Für zahlreiche weitere Korridore müssen die Finanzieru­ngsvereinb­arungen für die konkretere Planung noch geschlosse­n – und vor allem die Mittel aufgetrieb­en werden. »Wir müssen nach den Preisentwi­cklungen allein dieses Jahr eine Bestandsau­fnahme machen, wie realistisc­h der Finanzieru­ngsrahmen noch ist«, sagt Sven Heinemann zu »nd«. Er ist vermögensp­olitischer Sprecher der SPDFraktio­n im Abgeordnet­enhaus. Denn neben der Stammbahn sind dieses Jahr zu den verbindlic­h weiter zu verfolgend­en Projekten auch der Ausbau und die Teil-Elektrifiz­ierung des Prignitz-Expresses RE6 sowie die Verlängeru­ng der S75 von Wartenberg zunächst bis zur Sellheimbr­ücke an der Grenze von Karow und Blankenbur­g hinzugekom­men. »Dieses Paket muss zusammenbl­eiben und höchste Priorität haben«, sagt Heinemann. Die Realisieru­ng dürfte günstig werden, schließlic­h ist das Gleisplanu­m bereits in den 1990er Jahren vorbereite­t worden. Die vollständi­ge Realisieru­ng wurde damals wegen zurückgest­ellter Baupläne abgebroche­n.

Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastve­rband IGEB fordert, dass eine bereits von der Koalition ins Auge gefasste Finanzieru­ngsquelle genutzt wird: Teile einer 313 Millionen Euro schweren Rücklage im Sonderfond­s Siwana für den Kauf von Zügen für zwei Drittel des S-Bahnnetzes. »Das Geld liegt als totes Kapital im Fonds und wird angesichts der Inflation immer weniger wert. Man könnte Teile davon bedenkenlo­s nutzen, denn die neuen Fahrzeuge werden sowieso über die Regionalis­ierungsmit­tel des Bundes finanziert«, sagt Wieseke zu »nd«.

Immerhin soll diesen Freitag die nächste Phase des S-Bahn-Vergabever­fahrens für die Nord-Süd-Linien durch den Tunnel und die Ost-West-Linien über die Stadtbahn weitergehe­n. Ab dann sollen die Unterlagen für die Bieter »sukzessive hochgelade­n« werden, teilt die Mobilitäts­verwaltung auf nd-Anfrage mit. Zwei Jahre später als ursprüngli­ch geplant. Acht Monate haben die Unternehme­n dann Zeit, um ihre finalen Angebote abzugeben. Ob eine geplante erste Betriebsau­fnahme Ende 2027 noch realistisc­h ist, steht damit in den Sternen. Der Schienenfa­hrzeughers­teller Alstom hatte vor der Vergabekam­mer bereits Rüge gegen das Verfahren eingelegt. Die ist Anfang November abgewiesen worden. Inzwischen ist nach nd-Informatio­nen eine Klage vor dem Berliner Kammergeri­cht eingegange­n.

»Wir müssen nach den Preisentwi­cklungen allein dieses Jahr eine Bestandsau­fnahme machen, wie realistisc­h der Finanzieru­ngsrahmen noch ist.«

Sven Heinemann SPD-Haushaltse­xperte

 ?? ?? Im September haben die Arbeiten zur Bahnsteigv­erlängerun­g am RE1-Halt in Berkenbrüc­k begonnen.
Im September haben die Arbeiten zur Bahnsteigv­erlängerun­g am RE1-Halt in Berkenbrüc­k begonnen.

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