nd.DerTag

Zivilcoura­ge

Fabian Kretschmer zu den Protesten gegen Chinas Null-Covid-Politik

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Selten haben die Chinesen so viel Zivilcoura­ge zur Schau gestellt wie dieses Wochenende. Die Proteste während der letzten zwei Tage sind nicht nur die größten, sondern auch die mutigsten, welche die Volksrepub­lik China seit den 1990er Jahren gesehen hat. Sie zeigen ganz offen, wie viel Frust sich in den letzten Monaten aufgestaut hat. Denn der Unmut kommt nicht von ungefähr: Manche Chinesen, die durch die Ausgangssp­erren ihre ökonomisch­e Lebensgrun­dlage verloren haben, fühlen sich mit dem Rücken zur Wand: Sie haben nichts mehr zu verlieren. Viele andere hingegen können aus moralische­n Gründen nicht mehr schweigen und erheben ihre Stimme trotz massiver Repression­en. Sie alle eint, dass sie ein Ende der Null-CovidPolit­ik fordern. Dafür riskieren sie langjährig­e Haftstrafe­n.

Die Menschen positionie­ren sich gegen eine Politik, die mit der Person Xi Jinpings verknüpft ist. Niemand hat die Corona-Maßnahmen als derart alternativ­los und erfolgreic­h angepriese­n wie der 69-jährige Parteichef. Doch Xi Jinpings Herrschaft dürfte trotz der Proteste weiter halten. Wer etwas anderes behauptet, unterschät­zt die Effizienz der chinesisch­en Zensur und den Sicherheit­sapparat. Zudem richtet sich der Frust vor allem gegen die Corona-Maßnahmen, nicht jedoch automatisc­h gegen die Zentralreg­ierung in Peking. Nicht wenige sehen die Lockdowns als Machtmissb­rauch lokaler Nachbarsch­aftskomite­es, weniger als Auswuchs eines totalitäre­n Systems.

Xi Jinping steht nun vor einer folgenschw­eren Entscheidu­ng: Entweder folgt er der Stimme seines Volkes und lockert nicht nur die Lockdowns, sondern auch seine zunehmend repressive Politik. Oder aber er tut, was er die letzten Jahre perfektion­iert hat: die Protestier­enden mundtot zu machen.

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