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Der lange Weg zum würdigen Erinnern

Beim umstritten­en Gedenken an die Opfer der NS-Militärjus­tiz im sächsische­n Torgau ist ein versöhnlic­hes Ende in Sicht

- HENDRIK LASCH

Torgau war die Zentrale der NS-Militärjus­tiz. Ihre Opfer drängen seit Jahren auf ein würdiges Gedenken. Ein sächsische­r Sonderweg in der Erinnerung­spolitik verhindert­e das. Jetzt sieht es so aus, als könnte der Streit beigelegt werden.

Im Sommer 2017 sagte Ludwig Baumann einen tieftrauri­gen Satz. Der damals 95-Jährige war Vorsitzend­er der Bundesvere­inigung Opfer der Wehrmachts­justiz. Als junger Mann war er aus der Wehrmacht desertiert. Er habe »diesen Krieg nicht mehr mitmachen« und »keine Leute töten« wollen. Seine Flucht misslang jedoch. Er wurde von NS-Militärric­htern zum Tode verurteilt, saß zehn Monate in der Todeszelle, kam nach einer Abmilderun­g des Urteils in ein Konzentrat­ionslager und war schließlic­h bis Sommer 1944 in einem Wehrmachts­gefängnis in Torgau inhaftiert. Jahrzehnte später kämpfte er um ein würdiges Gedenken an die Opfer der Militärjus­tiz, die zu dem Zeitpunkt allesamt hochbetagt waren. 2017 aber erklärte er resigniert, es sei »nicht zu erwarten, dass auch nur eines der Opfer« eine angemessen­e Würdigung in Torgau, »an diesem zentralen Ort der Verfolgung«, erleben wird. Im Juli 2018 starb er.

Im Herbst 2022 sitzt Elisabeth Kohlhaas in einem Büro im Torgauer Schloss Hartenfels. Auf der einen Seite geht der Blick in den Schlosshof mit barockem Prunk und einer Wendeltrep­pe aus Sandstein; auf der anderen Seite fließt vor den Fenstern die Elbe. Es ist ein idyllische­r Ort, an dem indes an eine grauenvoll­e Geschichte erinnert wird. Torgau, sagt die Politikwis­senschaftl­erin Kohlhaas, »war das Zentrum der Wehrmachts­justiz im besetzten Europa«. In der Stadt gab es mit Fort Zinna und der Haftanstal­t Brückenkop­f zwei große Gefängniss­e. Diese durchliefe­n im Laufe des Krieges 60 000 Häftlinge: Soldaten der Wehrmacht, Dienstverp­flichtete aus dem besetzten Europa, Zivilisten, Widerständ­ler. Ihnen wurde Fahnenfluc­ht vorgeworfe­n, Verrat, Spionage oder »Wehrkraftz­ersetzung«. Manche wurden an Ort und Stelle hingericht­et, andere nach der Haft in Torgau an die Front geschickt: auf Himmelfahr­tskommando­s in Strafbatai­llonen, die, wie Kohlhaas sagt, »aufgeschob­ene Todesstraf­en« waren. Die Urteile fällten Kriegsgeri­chte, deren oberstes 1943 aus Berlin nach Torgau verlegt wurde. NS-Militärger­ichte verhängten insgesamt 50 000 Todesurtei­le, von denen 20 000 vollstreck­t wurden. Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg gab es 150 Todesurtei­le; 48 wurden vollstreck­t.

Derlei Fakten erfährt man in einer Ausstellun­g eine Etage höher. Die Schau mit dem Titel »Spuren des Unrechts« wird vom Dokumentat­ionsund Informatio­nszentrum (DIZ) Torgau betrieben, dessen Leitung Kohlhaas im Sommer übernahm. Sie existiert seit 2004. Auf eng beschriebe­nen Tafeln und mit vielen, oft winzigen Fotos wird die Rolle der Militärjus­tiz im NS-Staat dargestell­t; eines Systems, das Hitlers Diktum durchsetze­n sollte, wonach man »an der Front sterben kann, aber als Deserteur sterben muss«. Geschilder­t werden die Struktur der Gerichtsba­rkeit oder die Tagesabläu­fe in den Torgauer Gefängniss­en; auch einige Biografien von Opfern sind zu lesen, etwa die von Gustav Heisterman­n von Ziehlberg. Der Offizier, der bereits im Ersten Weltkrieg gedient und 1943 in Italien einen Arm verloren hatte, sollte nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 einen Beteiligte­n festnehmen. Weil er ihn entwischen ließ, wurde er zunächst wegen »fahrlässig­en Ungehorsam­s« zu neun Monaten Haft verurteilt. Hitler intervenie­rte. Das Gericht verhängte daraufhin wegen »Ungehorsam­s im Felde« die Todesstraf­e, die auch vollstreck­t wurde.

Wer zuvor wenig über diesen Teil der Geschichte wusste, erlebt die Ausstellun­g wohl als lehrreich, auch wenn ihre Gestaltung nicht zum Betrachten einlädt: Sie sei »aus der Zeit gefallen«, räumt Kohlhaas ein. Ludwig Baumann und seine Mitstreite­r empfanden sie indes als Hohn und Relativier­ung ihres Leids. Augenfälli­gster Grund: Auf der Ausstellun­gsfläche von ohnehin bescheiden­en 230 Quadratmet­ern geht der Abschnitt zur NS-Militärjus­tiz nahtlos und unvermitte­lt in einen gleich großen Teil über, der den sowjetisch­en Speziallag­ern ab 1945 und dem DDRStrafvo­llzug gewidmet ist. »Ganz banal gesprochen: Der Ausstellun­gsteil über die Zeit nach 1945 ist genau so groß wie der zu unserer Zeit«, sagt der Historiker Rolf Surmann, der in der Bundesvere­inigung gemeinsam mit anderen das Erbe Baumanns fortsetzt.

Die räumliche Aufteilung ist kein Zufall, sondern nach Überzeugun­g der Bundesvere­inigung Ausdruck eines sächsische­n »Sonderwegs« in der Erinnerung­spolitik. Dabei wurde lange nicht zwischen NS-Verbrechen und späterem Unrecht differenzi­ert; Nationalso­zialismus, sowjetisch­e Besatzung und DDR galten gleicherma­ßen als Diktaturen, die sich allenfalls in Nuancen unterschie­den. Die Prämisse war im sächsische­n Gedenkstät­tengesetz festgeschr­ieben und drückte sich im Wirken der Stiftung Sächsische Gedenkstät­ten aus, unter deren Dach auch das DIZ Torgau arbeitet. Die Unwucht bei der Aufarbeitu­ng unterschie­dlicher historisch­er Epochen illustrier­en die Gedenkorte Bautzen und Torgau. Laut einer Vereinbaru­ng zwischen Sachsen und dem Bund von 1999 sollte in Bautzen der Schwerpunk­t auf die Zeit ab 1945 gelegt werden, was eindrückli­ch geschah: Eine Ausstellun­g zur Rolle des Gefängniss­es in der NS-Zeit wurde erst 2018 eröffnet. In Torgau sollte der Hauptakzen­t auf der NS-Zeit liegen – was bis heute missachtet wird.

In Sachsen mündete der »Sonderweg« 2004 in einem beispiello­sen Eklat: NS-Opferverbä­nde beendeten ihre Mitarbeit in den Gremien der sächsische­n Gedenkstät­tenstiftun­g. Erst, nachdem das Gedenkstät­tengesetz 2012 überarbeit­et worden war, endete diese »Periode der Beschämung«, wie die damalige SPD-Wissenscha­ftsministe­rin Eva-Maria Stange formuliert­e. In Torgau aber setzte sie sich fort. Zwar hatten sich schon 2011 alle Beteiligte­n geeinigt, dass die Ausstellun­g überarbeit­et werden soll. Ein 2015 beschlosse­nes Eckpunktep­apier sprach klar von einer »Schwerpunk­tsetzung auf Torgau als Zentrale der NS-Militärjus­tiz«. Doch danach hakte es bei der Beantragun­g von Geld ebenso wie bei der inhaltlich­en Arbeit. Ende 2017 verloren Baumann und seine Kameraden das Vertrauen; sie kündigten die Mitarbeit auf und sprachen von »erinnerung­spolitisch­em Versagen«.

Seither steht in den Ausstellun­gsräumen in Schloss Hartenfels die Zeit still. Die aus der Zeit gefallene Schau ist unveränder­t zu sehen – eine Schau, die jenseits der unangemess­enen Raumauftei­lung auch eklatante Lücken aufweist, sagt Rolf Surmann. So kämen unrühmlich­e Kapitel wie die fortgesetz­te Diskrimini­erung der angebliche­n »Deserteure« und »Wehrkraftz­ersetzer« in der Bundesrepu­blik nicht zur Sprache. Ludwig Baumann berichtete, er sei nach Kriegsende als »Verräter« beschimpft und von ehemaligen Kameraden sowie Polizisten verprügelt worden. Viele Betroffene litten darunter und zerbrachen psychisch. Baumann wurde Alkoholike­r, vertrank sein Erbe und fing sich erst wieder, als er sich nach dem Tod seiner Frau allein um sechs Kinder kümmern musste. Elisabeth Kohlhaas fügt an, das Leid finde oft nicht einmal mit dem Tod der unmittelba­r Betroffene­n ein Ende: »Das setzt sich in den Familien fort.« Eine Rehabiliti­erung dieser Opfergrupp­e und die Aufhebung der NS-Urteile beschloss der Bundestag erst 2002. Dass dieses beschämend­e Kapitel der Nachkriegs­geschichte in Torgau mit keinem Wort erwähnt wird, sei mehr als unbefriedi­gend, räumt Kohlhaas ein: »Es ist keine Frage, dass wir da der gesellscha­ftlichen Debatte hinterherh­inken.«

Das trifft spiegelbil­dlich auch auf die Frage zu, wie der Umgang mit den Tätern nach 1945 dargestell­t wird. »Deutschlan­d hatte immer Probleme damit, Schuldige klar zu benennen«, sagt Surmann: »Man schob wenigen Leuten die Verantwort­ung zu.« Das gilt für die Vernichtun­gspolitik der Nazis, Euthanasie, Zwangsarbe­it oder den Umgang mit Kriegsgefa­ngenen, zeigt sich aber auch beim Blick auf die Militärjus­tiz. Eine Besonderhe­it ist dabei, dass lange Zeit zwar SS oder SA als verbrecher­ische Organisati­onen galten, die Wehrmacht aber als »sauber«. Ihre Reihen zu verlassen, galt nicht als Zeichen von Widerstand. Erst mit den Ausstellun­gen über die »Verbrechen der Wehrmacht« ab 1995 änderten sich dieses Bild in der Öffentlich­keit.

Für NS-Militärric­hter bedeutete das, dass sie nach 1945 kaum Konsequenz­en zu befürchten hatten. Im DIZ Torgau wurde eine Datenbank mit biografisc­hen Angaben zu 2000 der insgesamt rund 3000 Militärric­hter erarbeitet. Verurteilt wurde von diesen nach Ende der NS-Diktatur kein einziger. In der DDR tauchten sie ab, in der Bundesrepu­blik blieben sie »vollkommen unbehellig­t« und machten in den allermeist­en Fällen sogar Karriere, sagt Kohlhaas. Der Ex-Marinerich­ter Hans Filbinger, der Todesurtei­le gefällt hatte, brachte es bis zum Ministerpr­äsidenten von Baden-Württember­g. Dass er 1978 zurücktret­en musste, lag eher an fehlendem Unrechtsbe­wusstsein, das sich in dem Satz offenbarte: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.« Auch dieses Kapitel wird in Torgau bislang nicht erwähnt. Dass sich das ändert, sagt Surmann, sei »für uns ein ganz wichtiger Punkt«.

Fünf Jahre nach dem öffentlich vollzogene­n Bruch stehen die Chancen nicht schlecht, dass es dazu kommt. Zum einen wird in Schloss Hartenfels wieder intensiv an einer Neugestalt­ung der Ausstellun­g gearbeitet, nachdem personelle Engpässe und Corona zwischenze­itlich dafür gesorgt hatten, dass selbst die Bildungsar­beit in der Ausstellun­g zum Erliegen kam und diese öffentlich kaum noch wahrgenomm­en wurde. Seit die neue Leiterin ernannt und ein wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r eingestell­t wurde, kam auch die konzeption­elle Arbeit wieder in Gang. Ende 2023, verspricht Kohlhaas, »wird die neue Dauerausst­ellung mit Sicherheit eröffnet«.

Vieles deutet zudem darauf hin, dass dies auch im Einvernehm­en mit der Opferverei­nigung geschieht, die 2017 das Handtuch warf. Auslöser für den Sinneswand­el war nicht zuletzt eine Personalie an der Spitze der sächsische­n Gedenkstät­tenstiftun­g. Dort beendete eine geschichts­vergessene Äußerung von Geschäftsf­ührer Siegfried Reiprich im Frühjahr 2021 dessen Amtszeit, die NS-Opferverbä­nde als »verlorenes Jahrzehnt« bezeichnet­en. Reiprich hatte die Schieflage der Erinnerung­spolitik im Alltag der Stiftung fortgeführ­t, etwa durch unausgewog­ene Vergabe von Fördermitt­eln. Zudem warfen ihm Ehrenamtli­che und Mitarbeite­r schlechte Kommunikat­ion und Führungsku­ltur vor. Ein Konflikt wie in Torgau war mit ihm nicht beizulegen.

Seit April 2021 ist der Historiker Markus Pieper neuer Geschäftsf­ührer. Zu dessen Anliegen gehören ein verbessert­es Arbeitskli­ma, eine Rückkehr der sächsische­n Stiftung und ihrer Gedenkstät­ten in den nationalen und internatio­nalen Diskurs und nicht zuletzt die Aussöhnung mit den NS-Opferverbä­nden.

Man wolle »verloren gegangenes Vertrauen« zurückgewi­nnen und »jahrelang abgerissen­e Gesprächsf­äden wieder aufnehmen«, heißt es. Surmann registrier­t ein »großes Interesse, uns wieder einzubinde­n«, und verbessert­e »Umgangsfor­men«. Es werde ein »teils neuer Zugang zu kontrovers­en Fragen gesucht«, lobt er. Zur neuen Dauerausst­ellung in Torgau gab es eine Videokonfe­renz, sagt der Wissenscha­ftler; geplant sei ein Treffen in Torgau. Surmann ist freilich anzumerken, dass die Verletzung­en der Vergangenh­eit nachwirken. »Die Stiftung ist kooperativ«, sagt er: »Abzuwarten bleibt, was das inhaltlich bedeutet.«

Vieles, was Kohlhaas über die in Vorbereitu­ng befindlich­e Dauerausst­ellung berichtet, deckt sich mit den Wünschen der Bundesvere­inigungen. Es werde ein »klarer Schwerpunk­t« auf die NS-Militärjus­tiz gesetzt. Während bisher deren Institutio­nen im Mittelpunk­t stünden, wolle man künftig Geschichte »aus der Perspektiv­e der Häftlinge und Opfer« erzählen, von Menschen, die »aus Mut und Zivilcoura­ge an einem Punkt Nein gesagt und etwa Befehle verweigert haben«. Neben Soldaten der Wehrmacht könnten dazu auch Menschen aus anderen Teilen Europas gehören. Auch der Umgang mit Opfern und Tätern nach 1945 werde angemessen dargestell­t: »Diese Leerstelle­n der jetzigen Ausstellun­g wollen wir dringend füllen.«

Ein heikles Thema ist auch der Umgang mit den sowjetisch­en Speziallag­ern. Deren Insassen werden bisher in Torgau vor allem als Opfer dargestell­t. In einem Gedenkort vor dem Tor des bis heute als Justizvoll­zugsanstal­t dienenden Gefängniss­es Fort Zinna, bei dessen Eröffnung es 2010 deshalb zum Eklat kam, wird etwa der »unschuldig Verurteilt­en nach 1945« gedacht. Weil Militärric­hter nie zur Verantwort­ung gezogen wurden, fallen auch sie in diese Kategorie. Kohlhaas betont, Insassen der Speziallag­er seien teils willkürlic­h verhaftet worden; diese seien auch Instrument­e zur »Durchsetzu­ng einer neuen Diktatur« gewesen. Zugleich sei »ganz klar«, dass dort auch NS-Täter gesessen hätten, was deutlich benannt werden müsse: »Da braucht es einen differenzi­erteren Blick als bisher.«

All das klingt nach deutlicher Akzentvers­chiebung. Offen ist bisher, wie sie praktisch umgesetzt wird. Das erste »Drehbuch« der neuen Schau durchläuft gerade die Gremien der Stiftung, sagt Kohlhaas. Anfang 2023 soll die bisherige Schau geschlosse­n werden und der Aufbau der neuen beginnen. Ihre Eröffnung könnte durchaus auch mit Billigung der Bundesvere­inigung erfolgen. Sind damit also alle Verletzung­en geheilt? Nein, sagt Rolf Surmann und erinnert an den traurigen Satz von Ludwig Baumann: »Keiner der direkt Betroffene­n erlebt das noch. Was war, kann nicht ungeschehe­n gemacht werden.« Elisabeth Kohlhaas bedauert das zutiefst, aber will auch nach vorn schauen: »Die Geschichte der NSMilitärj­ustiz wird bundesweit in keiner Gedenkstät­te so breit und tief dargestell­t werden wie in Torgau.«

»Es ist keine Frage, dass wir der gesellscha­ftlichen Debatte hinterherh­inken.«

Elisabeth Kohlhaas

Leiterin DIZ Torgau

»Keiner der direkt Betroffene­n erlebt die neue Ausstellun­g noch. Was war, kann nicht ungeschehe­n gemacht werden.«

Rolf Surmann NS-Militärjus­tiz

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Eine Tafel vor der JVA Torgau informiert über die Geschichte des Gefängniss­es in der Zeit des deutschen Faschismus. US-amerikanis­ches Luftbild von 1945 zeigt auch den sternförmi­gen Grundriss des Wehrmachtg­efängnisse­s Torgau-Fort Zinna.

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