In Kriegszeiten
Aus der russischen Aggression wurde inzwischen auch ein Krieg des Westens gegen Russland, in dem die Ukraine das Kanonenfutter stellt
Die USA wollen ihren Niedergang möglichst lange hinauszögern. Da China und Russland als die stärksten Konkurrenten erscheinen, haben sie den wirtschaftlich schwächeren der beiden, Russland, in einen Hegemonialkampf verwickelt.
Der ukrainische Krieg Russlands tobt seit Monaten, mit Tausenden Toten, zerstörten Städten und Dörfern und Millionen Flüchtlingen. Es ist inzwischen ein Abnutzungs- oder Ermattungskrieg, Moskau will die Kiewer Armee ermatten und am Ende noch einen Sieg erringen; Washington will Moskau ermatten und Russland als relevante Weltmacht ausschalten. EU-Europa wurde bereits politisch und ökonomisch ermattet und erscheint nur noch als Schatten der Globalpolitik der USA. Die deutsche Bundesregierung will alles für eine Niederlage Russlands tun. Und tut dabei so, als hätten deutsche Truppen nicht bereits zweimal weit im Osten, zuletzt 1941, kurz vor Moskau gestanden. Zu Verhandlungen ist derzeit niemand bereit. Russland will den Siegfrieden, auch die Ukraine, und die Globalisten unter den Demokraten der USA meinten vor den Zwischenwahlen ebenfalls, sich einen Verständigungsfrieden schon aus innenpolitischen Gründen nicht leisten zu können.
Geopolitische Wandlungen
Der Westen hat nach dem Ende der Ost-WestKonfrontation Krieg wieder zu einem »normalen Mittel« der internationalen Politik gemacht. Russland folgt dem mit 20-jährigem Abstand. Das Völkerrecht seit dem Kriegsächtungspakt von 1928 verurteilt Krieg »als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle«, auf ihn soll »als Werkzeug nationaler Politik« verzichtet werden. Die Uno-Charta fixiert das Friedensgebot als für die Staatenbeziehungen zentral. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist ein offener Bruch des Völkerrechts, ein Versuch, Krieg »als Werkzeug nationaler Politik« zu benutzen. Ein »Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht« gibt es jedoch in keinem rechtsstaatlichen Gefüge. Die Lügen und Verbrechen der USA in den Kriegen seit 1990 (Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen usw.) entlasten Putins Russland nicht.
Der belgische Geopolitiker David Criekemans spricht von einer »ungelösten russischen Frage«: Die »geopolitischen tektonischen Platten verschieben sich durch diesen Krieg«. Das aus dem Wiener Kongress 1815 hervorgegangene »Konzert der Mächte« stellte ein System konservativer Regimes wieder her, in dem sich die europäischen Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland) im Gleichgewicht hielten. Im Krim-Krieg (1853–1856) stellte Russland dieses System in Frage, es wollte das Osmanische Reich weiter schwächen und die Meerengen vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer kontrollieren. Russland – obwohl dem Osmanischen Reich allein überlegen – unterlag, weil Großbritannien und Frankreich dieses unterstützten.
Das »Konzert« von 1815 zerbrach dann mit der nationalen Einigung Italiens und Deutschlands. Die Niederlage im deutschfranzösischen Krieg 1870/71 führte zu einem »französischen Revanchismus« und mündete in den Ersten Weltkrieg (1914–1918). Die Demütigung Deutschlands nach der Niederlage von 1918 mit dem Vertrag von Versailles 1919 hatte »deutschen Revanchismus« zur Folge. Im 20. Jahrhundert wurde die internationale Ordnung dreimal »neu geordnet«: mit dem Versailler System von Friedensverträgen und der Errichtung des Völkerbundes 1920, mit dem Potsdamer Abkommen und den Vereinten Nationen 1945 sowie nach dem Ende des Kalten Krieges mit der »Charta von Paris« 1990 und der Schaffung der OSZE.
Criekemans stellt die Frage nach einem »russischen Revanchismus« nach dem Kalten Krieg: »In den 90er Jahren verpasste die Welt eine einzigartige dritte Chance (...). Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Entstehen unabhängiger Nachfolgestaaten wie Russland und der Ukraine konnten diese Länder in eine Weltgemeinschaft und eine gestärkte internationale Rechtsordnung integriert werden.« Die Gründe für diese westliche Politik liegen im Fukuyama-Syndrom: Der Verlierer des Kalten Krieges sollte klein beigeben und sich in eine Rolle als »Regionalmacht« fügen. Nach dem Ende der Sowjetunion und des Realsozialismus im Osten Europas befinden wir uns wieder in einer Epoche des Imperialismus, in einem weltweiten imperialistischen System. Russland ist ein »normales« kapitalistisches Land in der nun wieder »normalen« imperialistischen Welt.
Das Spiegelungsproblem
Die Quellen des »russischen Revisionismus« untersuchten Ivan Krastev und Stephen Holmes und bestätigten die gegensätzlichen Sichten im Westen und in Russland. Niemand, »der heute das Ende des Kalten Krieges als einen Triumph des höchsten moralischen Strebens der Menschheit beschreibt, wird Russlands (...) strategischem Schwenk zu antiwestlicher Kriegslust je einen Sinn abgewinnen«. »Der Regimewechsel« in Russland nach dem Ende der Sowjetunion »erwies sich vor allem deshalb als nicht besonders beliebt, weil er mit einem gewaltigen Verlust an Territorium und Bevölkerung verbunden war«. Die »Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato trotz der scharfen Kritik Russlands entlarvte den westlichen Schwindel, das Ende des Kalten Krieges sei eigentlich ein gemeinsamer Sieg, auch für das russische Volk«. Vor über zehn Jahren ging Russland dazu über, die westliche Außenpolitik selektiv zu spiegeln. Der ukrainische Krieg Russlands war gedacht als machtpolitische Demonstration, als»Spiegelung« der Kriege des Westens.
Er wurde jedoch keine echte Spiegelung. Zunächst kein »Blitzkrieg«,der Widerstand der ukrainischen Truppen war größer und wirkungsvoller als in Moskau gedacht. Das geopolitische Bild hat Unschärfen. Aus der Sicht des heutigen Westens mit seinen tendenziell schwindenden machtpolitischen Ressourcen ist der Konflikt mit Russland einerseits und der mit China andererseits ein »Zweifrontenkrieg«. Unter diesem Gesichtspunkt war der Ukraine-Krieg aus russischer Sicht als Stärkung der eigenen Positionen gedacht. Je länger der Krieg andauert, desto weniger kann jedoch mit einer Stärkung russischer Positionen gerechnet werden. Der Westen hat frühere Begrenzungen zur Stationierung von Truppen und Waffensystemen im Osten Europas aufgekündigt. Deutschland und andere Nato-Länder wollen ihre militärischen Kapazitäten aufstocken. Finnland und
Schweden treten der Nato bei. Damit sehen die Positionen Russlands auf der Landkarte ähnlich schlecht aus, als wenn es den NatoBeitritt der Ukraine akzeptiert hätte.
Wir haben es einerseits mit einem Regionalkrieg zwischen der Moskauer und der Kiewer Regierung zu tun. Die Moskauer »Elite« hat den Kompromiss von 1991 aufgekündigt, an dessen Bruchlinien die Sowjetunion in nationale Bestandteile zerlegt wurde, um die Nomenklatura in eine neue Kapitalistenklasse zu verwandeln. Andererseits ist es ein Hegemonialkrieg um die Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Die USA wollen ihre globale Machtposition verteidigen und ihren Niedergang möglichst lange hinauszögern. Da China und Russland als die stärksten Konkurrenten erscheinen, haben sie den wirtschaftlich schwächeren der beiden, nämlich Russland, in einen Hegemonialkampf verwickelt.
Aktualitäten
Doch das westliche Siegesgeheul kommt zu früh. Bismarcks berühmter Satz »Russland ist nie so stark oder so schwach, wie es scheint« gilt weiter. Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick betonte, »die militärischen und politischen Kräfteverhältnisse« ließen sich deutlich bestimmen: »Den Ukrainern gelingt es zwar, durch das Zusammenziehen von Kräften sowie milliardenschwere westliche Waffenlieferungen und Unterstützung bei Ausbildung, Aufklärung und Zielerfassung punktuelle lokale Überlegenheit zu erreichen und damit auch lokale Durchbrüche zu erzielen. Die Eskalationsdominanz liegt jedoch auf russischer Seite.« Eine solche Feststellung gelte als »russenfreundlich«, sei in der Tat jedoch nur realistisch. »Die russischen Möglichkeiten sind keineswegs am Ende. Russland ist vielmehr bereit und in der Lage, seine selbst definierten militärischen Ziele in der Ukraine mit kaltem und langem Atem zu erreichen.«
Dieser Krieg bleibt ein Aggressionskrieg Russlands, einige Charakteristika haben sich jedoch geändert. Als Putin den Befehl zum Krieg gab, schienen seine Begründungen, es ginge gegen Faschismus in der Ukraine und es sei ein Krieg des Westens gegen Russland, monströs und reine Zweckpropaganda – wie einst die Behauptung von George W. Bush, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen, weshalb man sofort den Irak überfallen müsse. Je länger der Krieg jedoch andauert, desto mehr nimmt er den Charakter an, den Putin damals behauptet hatte. Dass es inzwischen ein Krieg des Westens gegen Russland ist, in dem die Ukraine das Kanonenfutter stellt, ist unzweifelhaft.
Was den anderen Punkt anbetrifft: Vor einigen Jahren galt der Satz: Im Kampf zwischen dem Zaren und den Bojaren hat in
Russland der Zar gewonnen und in der Ukraine die Bojaren. Inzwischen hat Präsident Woldymyr Selenskyj im Namen des Kriegsrechts die ukrainischen Oligarchen seiner Macht unterworfen. Der Präsident verbot oppositionelle Fernsehsender, seine Staatsanwälte klagten seinen Vorgänger Petro Poroschenko des Hochverrats an, er gestaltete den Obersten Gerichtshof unter Verletzung der ukrainischen Verfassung um, unterzeichnete Gesetze zur Diskriminierung der russischen Sprache und verbot elf politische Parteien. Die westliche Propagandabehauptung, die Ukraine würde »unsere Freiheit« verteidigen, erweist sich als Lüge.
Am 6. September eröffnete Selenskyj virtuell die New Yorker Börse. Das Land sei offen für Investitionen ausländischer Unternehmen in Höhe von 400 Milliarden US-Dollar. Dazu würden die Märkte geöffnet, Zölle gesenkt, Industriebestimmungen dereguliert und die Arbeitsgesetze neoliberal eingeebnet. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson betonte, die von der ukrainischen Regierung »verhängten neuen arbeitsfeindlichen Notstandsgesetze« seien nur mit der neoliberalen Agenda von Pinochet nach dem Putsch gegen Allende 1973 zu vergleichen.
Vor über zehn Jahren ging Russland dazu über, die westliche Außenpolitik selektiv zu spiegeln. Der ukrainische Krieg Russlands war gedacht als »Spiegelung« der Kriege des Westens.
Es gibt kein »Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht«. Die Lügen und Verbrechen der USA in den Kriegen seit 1990 entlasten Putins Russland nicht.
Am 21. September wurde mitgeteilt, Putin habe eine Teilmobilmachung angeordnet, womit 300000 russische Reservisten zu den Fahnen gerufen werden. Im Westen wurde dies als »Zeichen der Schwäche« interpretiert. Tatsächlich folgt das der militärischen Logik seit PeterI.: Wenn die bisher bereitgestellten militärischen Kräfte nicht ausreichen, muss man aus der Tiefe Russlands neue bereitstellen. Während die ukrainischen Kräfte – wenn man die »siegenden« Soldaten sieht, sind das meist ältere Männer – durch den Massenaufstand eine punktuelle Überlegenheit an einzelnen Frontabschnitten erreichten, kann sich die russische Armee mit frischen Kräften so aufstellen, dass sie an wichtigen Frontabschnitten eine neue Überlegenheit erringt. Und gegebenenfalls an der Schwarzmeerküste auch bis zur rumänischen Grenze vorrücken kann, um die Ukraine zu einem Binnenstaat zu machen.
Dennoch war Putins Order zur Teilmobilmachung auch eine gute Nachricht. Sie bedeutet, dass in der folgenden Phase des Krieges wohl keine Atomwaffen eingesetzt werden.