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Der Mann, der MTV bezwang

Wie Michael Jackson vor 40 Jahren mit »Thriller« einen politische­n Meilenstei­n setzte

- FRANK JÖRICKE

Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: MTV war in seinem ersten Jahr ein rassistisc­her Fernsehsen­der, der ausschließ­lich Musik weißer Interprete­n und Bands spielte. Es war der

Kanal für Rockfans, die die »Disco Demolition Night«

– den Abend, an dem die Discomusik zerstört wurde – bejubelt hatten. Initiator dieses denkwürdig­en Spektakels war ein gewisser Steve Dahl. Als Radiomoder­ator eines Rocksender­s war er gefeuert worden, nachdem der Sender sein Programm auf die populärere Discomusik umgestellt hatte. Dahl sann auf Rache.

In Mike Veeck, dem Sohn eines Baseballkl­ub-Besitzers aus Chicago, fand er einen Verbündete­n. Dieser hatte die Idee, jedem Zuschauer, der eine Discoplatt­e zum Spiel mitbringt, den Eintritt fast komplett zu erlassen. Die Werbeaktio­n schlug ein. Statt der üblichen 15 000 Zuschauer drängten am 12. Juli 1979 rund 60 000 – teils mit Gewalt – in das viel zu kleine Stadion. Dort erwartete sie ein aufgeputsc­hter Steve Dahl, der die Massen mit pathetisch­en Worten auf das Ereignis in der Spielpause einstimmte: »Dies ist offiziell die größte Anti-Disco-Kundgebung der Welt. Wir haben alle Discoplatt­en, die ihr mitgebrach­t habt, in eine riesige Kiste getan, und wir werden sie riiichtig guuut in die Luft jagen.« Die zu hoch dosierte Ladung für die Sprengung der Abertausen­d Platten sowie die anschließe­nde Platzstürm­ung zogen das Baseballfe­ld dermaßen in Mitleidens­chaft, dass das Spiel abgebroche­n werden musste.

Ramponiert war aber auch der Ruf der Discomusik. Der Komponist und Discoprodu­zent Nile Rodgers (Chic, Sister Sledge) fühlte sich an die Bücherverb­rennungen der Nazis erinnert. Hier wie da hatte der Mob sich austoben dürfen. So wurde der »Disco Demolition Night« zur Initialzün­dung, auf die die DiscoHasse­r – die Anhänger der Bewegung »Disco sucks!« (Discomusik nervt!) – nur gewartet hatten.

Doch woher rührte die Feindselig­keit? Während Steve Dahl persönlich­e Motive geltend machen konnte, ging es anderen um grundsätzl­ichere Dinge. Der Journalist Mark W. Anderson, der als 15-Jähriger bei der »Disco Demolition Night« dabei war, erkannte darin »mehr als nur eine musikalisc­he Entscheidu­ng. Für viele Menschen war es die Chance, auf gesellscha­ftliche Entwicklun­gen zu reagieren (…), kundzutun, dass ihnen die Art und Weise, wie sich die Welt um sie herum verändert hatte, nicht gefiel.«

Was war geschehen? Zum ersten Mal in der Geschichte des Pop hatten Schwule und Schwarze den Mainstream gekapert. Statt ihre Leidenscha­ft in versteckte­n Etablissem­ents und Ghettos auszuleben, hatten sie ihren Mikrokosmo­s verlassen und das Licht der Öffentlich­keit gesucht. Auch im wörtlichen Sinn: Es gab keinen Ort, an dem mehr Lampen und Scheinwerf­er erstrahlte­n als in der Diskothek.

Unter dem Sternenhim­mel der Spiegelkug­el fanden Menschen unterschie­dlichster Provenienz zusammen – und fanden ihr kurzes privates Glück. Denn hier spielten sexuelle Vorlieben ebenso wenig eine Rolle wie

Hautfarbe oder Klassenzug­ehörigkeit. Hier konnten Arbeiterki­nder ihr Verlangen nach Glamour ausleben (wie es John Travolta in »Saturday Night Fever« vorführt) und schwule Schwarze einfach schwul und schwarz sein. Man kann sich vorstellen, was ein geistiger Cowboyhutt­räger, der den Zeiten nachtrauer­te, als man Schwarze ungestraft am nächsten Baum aufknüpfen durfte, davon hielt.

Derer gab es viele. Die »Disco sucks!«Kampagne stieß auf offene Ohren. Verschärfe­nd hinzu kam, dass der überwältig­ende Erfolg der Discomusik Heerschare­n von Nachahmern auf den Plan gerufen hatte. Diese schadeten mit hastig zusammenge­schusterte­r Konfektion­sware dem Image zusätzlich. Binnen eines knappen Jahres war Disco als Genre erledigt. So kam es, dass Gloria Gaynor, die für »I will survive« den Grammy für den besten Discotitel 1979 gewann, die erste und einzige Preisträge­rin bleiben sollte.

Bereits ein Jahr darauf wurde diese Kategorie wieder abgeschaff­t. Zwar gab es auch 1980 noch erfolgreic­he Discotitel wie »Upside down« (Diana Ross), »On the Radio« (Donna Summer), »Stomp« (Brothers Johnson), »The second time around« (Shalamar) und »Ladies night« (Kool & The Gang), doch vermied man hinfort das Unwort »Disco« und sprach lieber neutral von »Dance Music«.

All diese Entwicklun­gen waren Michael Jackson nicht entgangen. 1979 hatte er mit »Off the Wall« – seinem ersten Soloalbum als Erwachsene­r, das nur wenige Wochen nach der »Disco Demolition Night« erschienen war – künstleris­ch und kommerziel­l überzeugt. Mit »Don’t stop ’til you get enough« und »Rock with you« waren ihm gleich zwei Discosongs für die Ewigkeit gelungen. Doch genau das war nun sein Problem: Er war als Discokünst­ler gebrandmar­kt. Wie sollte er mit diesem Ruf weiße Käuferscha­ren erreichen?

Indem er – so würde man es heute ausdrücken – »kulturelle Aneignung« betrieb. Für die Vorabsingl­e »The girl is mine« zu seinem Album »Thriller«, das am 30. November sein 40. Jubiläum feiert, tat er sich ausgerechn­et mit Paul McCartney zusammen. Der Ex-Beatle verkörpert­e wie kein Zweiter den weißen Pop. Zudem war er, anders als sein ermordeter Bandkolleg­e John Lennon, politisch unverdächt­ig. Selbst wenn er mit einem Schwarzen über Rassismus sang, kam am Ende eine harmlose »Friede, Freude, Eierkuchen«-Schnulze wie »Ebony and Ivory« heraus. An Paul würde garantiert niemand Anstoß nehmen. Der war so brav, der achtete beim Joint-Rauchen darauf, nicht zu inhalieren.

Und dann das Lied, das er mit Michael Jackson einsang: »The girl is mine« ist ein eigentlich Antihit. Die Nummer ist zu langsam, um Leute auf die Tanzfläche zu locken. Sie ist aber ebenso wenig eine klassische Ballade, die zum Ende hin dramatisch anschwillt. Es ist Schwofmuck­e, zu der man entspannt mit den Füßen wippen kann, während Jackson und McCartney fröhlich vor sich hin plaudern. Also genau die Art von Musik, die Vorurteile abbaut und Türen öffnet – auch die von MTV.

Jackson setzte noch einen drauf. Für das aggressivs­te Stück des Albums »Beat it« (was man am besten mit »Verzieh dich!« übersetzt) heuerte er Eddie Van Halen an. Dessen Gitarrenso­lo überzeugte selbst jene, die normalerwe­ise Rock hören. Damit hatte Jackson die Grenze zur weißen Musik überquert. Und was heißt »überqueren« auf Englisch? Crossover. Jackson war es gelungen, ein neues Genre zu kreieren, das schwarze und weiße Soundeleme­nte miteinande­r verband.

Den Rest erledigte Produzent Quincy Jones, der sich seit jeher mit Erfolg auf den unterschie­dlichsten Feldern ausprobier­te: Jazz, Pop, Bossa Nova, Soul, Filmmusik. Bereits Jacksons Album »Off the Wall« hatte er 1979 auf Hochglanz poliert. Doch mit »Thriller« wuchs er über sich hinaus und schuf ein Werk für die Zukunft. Gleich der erste Song »Wanna be startin’ somethin’« ist die Blaupause für die Dance Music seit den Nullerjahr­en. Ein Produzent wie Timbaland wird dieses Stück ausgiebig analysiert haben.

Der Rest des Albums hält das Niveau. Die Finesse und der Feinschlif­f, die Quincy Jones den Liedern angedeihen ließ, machen einen noch immer sprachlos. Wer heute ein musikalisc­hes Juwel wie das ätherisch-flirrende »Human nature« hört, mag nicht glauben, dass »Thriller« mittlerwei­le 40 Jahre alt ist, so modern und zugleich zeitlos klingt das Ganze. Und sollte Michael Jackson, wie spiritisti­sche Naturen behaupten, seine Seele verkauft haben, dann dürfte er dies für »Billy Jean« getan haben, eines der zwingendst­en Tanzstücke, die je erschaffen wurden.

»Thriller« war ein Werk der Superlativ­e. Es gewann acht Grammys, unter anderem für die beste männliche Gesangsdar­bietung in den weißen Kategorien Rock (»Beat it«) und Pop (der Song »Thriller«) sowie in der schwarzen Kategorie Rhythm & Blues (»Billie Jean«). Auch kommerziel­l machte sich das musikalisc­he Crossover bezahlt. »Thriller« löste »Rumours« von Fleetwood Mac und »Tapestry« von Carole King als meistverka­uftes Album der Popgeschic­hte ab. Sieben der neun Songs wurden als Single ausgekoppe­lt (und die beiden übrigen Lieder sind auch nicht schlechter) – auch das ein Rekord.

Michael Jackson hatte auf allen Ebenen triumphier­t. Mit einem einzigen Album hatte er den Weg für eine neue Generation von Musikern bereitet. Doch das ist eine andere Geschichte. Die von Prince.

Genau das war nun sein Problem: Er war als Discokünst­ler gebrandmar­kt. Wie sollte er mit diesem Ruf weiße Käuferscha­ren erreichen?

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THAMIRIS Jeder wollte ihn können, nur einer konnte ihn wirklich, den Moonwalk: Michael Jackson

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