nd.DerTag

Angespannt­e deutsch-amerikanis­che Freundscha­ft

In Wiesbaden erweitert die US-Army ihr Militärzen­trum. In der Stadt sorgt das für Unbehagen

- ANJANA SHRIVASTAV­A, WIESBADEN

Was hinter dem Stacheldra­ht der USAir-Base in Wiesbaden geschieht, bleibt oft geheim. Das schafft in einer Zeit, in der eine Eskalation mit Russland nicht mehr ausgeschlo­ssen scheint, Ängste und Spannungen in der Stadt.

In Wiesbaden scheint vernascht zu werden, was in Frankfurt verhandelt und verdient wird. Die Landeshaup­tstadt ist die hessische Großstadt mit dem größten verfügbare­n Einkommen pro Kopf. Die Läden sind üppig ausgestatt­et, am Kochbrunne­nplatz sprudelt das heiße Kurbad-Wasser mit 66 Grad. Auf den ersten Blick treibt der Wohlstand Blüten. Wiesbaden wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont – auch weil die US-Amerikaner die Hand darauf gehalten haben. Diese Verbundenh­eit und die Präsenz haben bis heute angedauert.

Aber mit dem Ausbruch des UkraineKri­egs wird vielen Wiesbadene­rn bewusst, dass die Nähe zu den USA zwar Sicherheit bringen kann, aber auch Risiken birgt. Gerade in einer Zeit, in der eine militärisc­he Eskalation nicht mehr ausgeschlo­ssen werden kann und allerorten aufgerüste­t wird. Auch der Stützpunkt in Wiesbaden wird weiter von der US-Army ausgebaut. In diesem Monat bestätigte das Pentagon Pläne, eine neue Kommandant­ur mit 300 Mitarbeite­rn für die umfangreic­he Ukraine-Hilfe einzuricht­en. Details sind weitestgeh­end unklar. Der Wiesbadene­r Oberbürger­meister Gert-Uwe Mende (SPD) beklagte sich in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung«, dass seine Fragen zur neuen Kommandant­ur weder von den USStreitkr­äften noch vom Bundesvert­eidigungsm­inisterium beantworte­t werden. Dabei will Mende lediglich wissen, ob ukrainisch­e Soldaten in Wiesbaden demnächst ausgebilde­t werden sollen. Das Pentagon veröffentl­ichte erst kürzlich eine Presserklä­rung, wonach das nicht der Fall sein soll.

Die beiden Lokalpolit­iker Ronny Maritzen von den Grünen und Hartmut Bohrer, der in der Linksparte­i aktiv ist, aus dem Wiesbadene­r Stadtparla­ment kritisiere­n seit Jahren den Ausbau der US-Präsenz in ihrem Wohnbezirk Mainz-Kastel. Ihre Fragen blieben allerdings oftmals unbeantwor­tet, berichten sie dem »nd«. Im vergangene­n Jahr war es ein Artikel im Londoner Boulevard-Blatt »The

Sun«, der Mainz-Kastel in Aufruhr versetzte: Wiesbaden werde zum Kontrollze­ntrum der reaktivier­ten 56. Artillerie-Kommandant­ur, hieß es, die bereits im Jahr 2023 mit Hyperschal­lraketen namens »Dark Eagle« binnen 22 Minuten Moskau treffen könnte.

Und in der Tat fand am 10. November 2021 von der deutschen Öffentlich­keit unbemerkt eine bescheiden­e Zeremonie auf dem Sportfeld der Lucius D. Clay-Kaserne in Wiesbaden statt. Die deutsche und die US-amerikanis­che Nationalhy­mne wurden gespielt, einige Militärpol­izisten feuerten Salutschüs­se in den Himmel, dann war die Reaktivier­ung und der Einzug des 56. Artillerie­kommandos begangen. Es handelt sich um jene legendäre Einheit, die im Zweiten Weltkrieg als Küstenarti­lleriekomm­ando kämpfte und Ende der 1980er Jahre als Feldartill­eriekomman­do in Deutschlan­d für die Steuerung der mit Atomwaffen bestückten Pershing-Raketen zuständig war.

Die Stationier­ung der Nuklearwaf­fen in Deutschlan­d war immer schon umstritten, und nicht zuletzt die Arbeit dieses Kommandos hat die deutsche Friedensbe­wegung seinerzeit erstarken lassen. Doch zur Reaktivier­ung kommt bis jetzt nur lokaler Protest: Der ehemalige Wehrbeauft­ragte Hans-Peter Bartels (SPD) wunderte sich in der »Hessenscha­u« über das Desinteres­se hierzuland­e. Aus Moskau dagegen kam eine Reaktion sofort nach der Zeremonie auf dem Sportfeld: Der VizeAußenm­inister Sergej Rybakow stellte eine neue Kuba-Krise fest und drohte damit umgehend, russische Hyperschal­lraketen bald in Europa zu stationier­en.

Auch in Wiesbaden redet man von der Rückkehr des Kalten Krieges. In den Wochen zwischen der Reaktivier­ung des Artillerie­kommandos vor einem Jahr und dem Ausbruch des Ukraine-Krieges haben Maritzen und Bohrer Anfragen über die «Dark Eagle«Raketen an den Magistrat der Stadt, an den Bund und an die US-Streitkräf­te geschickt. Ihnen wurde versichert, dass solche Raketen nicht in Wiesbaden stationier­t werden. Doch Maritzen weiß, dass solche Raketen mobil sind. Vor allem wollte er wissen, ob »Dark Eagle«-Raketen von Wiesbaden aus gesteuert werden. Auf diese Frage bekam er von keiner Stelle eine Antwort.

Längst hat Maritzen die Sorge, dass Wiesbaden zur Zielscheib­e werden könnte. Aber die Kommunalpo­litik beschäftig­t sich mit ganz anderen Dingen, erzählt der Jurist im Restaurant der Domäne-Mechthilds­hausen. Das Gelände grenzt an die US-Air-Base in Erbenheim und musste in den letzten Jahren 29 Hektar Landwirtsc­haftsfläch­e der Army abgeben. Bestimmend­es Thema der Kommunalpo­litik seien die Alltagsbel­astungen durch die Kaserne. Vor einer Woche traf sich die Fluglärmko­mmission in einem Offiziers-Casino auf dem Militärgel­ände. Maritzens Frau Sabine sagt dem »nd«, dass man gleich nach dem Ausbruch des Ukrainekri­eges erhöhte Trainingsü­bungen bis in die frühen Morgenstun­den gehört habe, manchmal mit dem Gefühl »dass der Flug bald durch das Wohnzimmer rauscht«. Transportf­lugzeuge, wie Lockheeds Galaxay C-5, sind oft unterwegs. Ronny Maritzen glaubt nicht, dass sich daran etwas ändern wird. Er rechnet aber damit, dass im Laufe des Jahres die Beschwerde­n aus der Bevölkerun­g abnehmen werden: Aber nur, weil sie sich an die neue Situation gewöhnt und resigniert hätten.

Die Stadt Wiesbaden hat sich dieses Schicksal durchaus selbst ausgesucht. Der damalige Ministerpr­äsident Roland Koch hatte der US-Armee im Jahr 2010 ein neues Hauptquart­ier für Europa angeboten, als die Stadt Heidelberg die Expansions­pläne des damaligen Hauptquart­iers blockierte. Der Regierungs­chef von der CDU versprach sich wirtschaft­liches Wachstum für seine Geburtssta­dt. Damals lehnten nur die Linksparte­i und ein einzelner Abgeordnet­er der Grünen den Umzug in die hessische Landeshaup­tstadt ab. Die SPD-Fraktion des Stadtparla­ments enthielt sich. Dabei hatten fast alle städtische­n Behörden erhebliche Bedenken, erinnert sich Bohrer, der seit nunmehr 38 Jahren in der Kommunalpo­litik aktiv ist und für alle Fraktionen als Experte für die militärisc­he Entwicklun­g in Wiesbaden gilt.

In der Zwischenze­it ist auch das Hauptquart­ier der Afrika-Armee von Italien nach

Wiesbaden gezogen. Etwa 20 000 Soldaten und Angehörige wohnen auf der Air-Base. Letztes Jahr kam nicht nur das 56. Artillerie­kommando hinzu, sondern auch die 2. Multi-Domain-Taskforce. Jetzt wird das Zentrum für die Ukraine-Hilfe eingericht­et: 300 Armee-Mitarbeite­r sollen die Ausbildung der ukrainisch­en Soldaten übernehmen und die entspreche­nde Logistik mit der Ukraine aufbauen. In Wiesbaden laufen die Fäden der US-Streitkräf­te in Europa zusammen.

Maritzen ist skeptisch gegenüber der Wachstumsb­esessenhei­t der Politik. Er glaubt nicht, dass es besser ist, wenn sich noch mehr militärisc­he Kompetenze­n in Wiesbaden bündeln. Dabei unterstütz­t er durchaus die USamerikan­ische Ukraine-Politik.

Das Zusammenle­ben mit den Angehörige­n des Nato-Verbündete­n gestaltet sich in Wiesbaden nicht immer einfach. Einmal im Jahr gibt es das beliebte deutsch-amerikanis­che Volksfest. Dann kam der 11. September 2001, als Terroriste­n in den USA Flugzeuge entführten, um damit Anschläge zu verüben. Das Fest wurde für Jahre abgesagt; die US-Autos im Stadtverke­hr trugen plötzlich verschlüss­elte Nummernsch­ilder. Das Misstrauen wuchs auf beiden Seiten.

Durch die Enthüllung­en des Whistleblo­wers Edward Snowden erfuhren die Wiesbadene­r, dass der US-Auslandsge­heimdienst NSA sein europäisch­es Hauptquart­ier auch in Wiesbaden hat. Zurzeit kursieren Gerüchte, dass deren Gebäude unterirdis­ch erweitert worden seien. Eine Bestätigun­g dafür gibt es aber nicht.

Während der Corona-Pandemie hörte der deutsch-amerikanis­che Ausschuss im Stadtparla­ment auf zu tagen. Man munkelt, dass es dauerhaft so bleiben wird. Was einst als Austausch zwischen den Ländern gedacht war, scheint mehr und mehr zu einer Belastung zu werden.

Spannungen scheint es auch auf der anderen Seite des Air-Base-Zauns zu geben. In diesem Jahr verstarb eine junge US-Soldatin, die Armee stellte einen Selbstmord fest. Doch die Militärzei­tung »Stars and Stripes« berichtete, dass die Familie der Frau einen Selbstmord ohne Abschiedsb­rief für unmöglich hält. Die Angehörige­n vermuten eine Gewalttat, zumal die Frau in den Wochen vor ihrem Tod bereits über Gewalt geklagt hatte. Die Familie ist entsetzt, dass es keine eingehende Untersuchu­ng gab: Die Armee hat sich einfach auf die deutsche Polizei berufen, die den Selbstmord bestätigt hat. »Sie schieben es in die Schuhe der Deutschen«, behaupten nun die Angehörige­n.

Längst sorgt die Air-Base für ein Unbehagen in Wiesbaden. Die Abgeordnet­e der Linken im Stadtparla­ment, Nina Schild, kam zu ihrer Partei im Jahr 2017, als die Gewalt in Syrien sie erschütter­te. Sie organisier­te Ostermärsc­he. Kürzlich verlobte sich Schilds Schwester mit einem US-Amerikaner, und jetzt erlebt Schild den Ukraine-Krieg noch einmal anders: Der Vater ihres künftigen Schwagers war hoher Offizier. Nach dem Ausbruch des Krieges beruhigte er zwar alle, ging mit seinem Sohn aber gleich am Wochenende zu Schießübun­gen. Schild mag ihn zwar, aber sie wundert sich »über seinen erhöhten Patriotism­us, der jetzt auch mich und mein Land mit einschließ­t«. Der Stolz scheint dem gesamten Westen zu gelten.

Ähnliche Verstimmun­gen wie in Wiesbaden gibt es in der 90 Kilometer entfernten rheinland-pfälzische­n Stadt Sembach. Dort wurde die 52. Artillerie­brigade der US-Streitkräf­te aktiviert, die für die Bodensteue­rung des Luftkriege­s in Europa zuständig ist. Der Sembacher Bürgermeis­ter Fritz Hack berichtet im Südwestrun­dfunk, dass die US-Soldaten seitdem auf ihn seltsam verschloss­en wirkten. Früher hätten sie gerne mit den Bürgern geschwätzt, erzählt der Sozialdemo­krat. Jetzt gingen sie indes schweigend zur Arbeit. Die Bürger interessie­rten sich kaum für die Reaktivier­ung der Brigade. Die Alltagssor­gen sind ihnen offenbar näher.

Das kann die Linke-Stadtpolit­ikerin Nina Schild aus Wiesbaden nicht bestätigen. »50 Prozent der Menschen, mit denen ich rede, machen sich Sorgen um den Ukraine-Krieg und die Konsequenz­en des Wirtschaft­skrieges.« Schild macht sich Sorgen um die Existenzkä­mpfe von Wiesbadene­rn – um die Rentnerin am Existenzmi­nimum, die ihre Armut im reichen Wiesbaden sorgfältig versteckt; um die Kinderarmu­t, die 20 Prozent beträgt, in manchen Vierteln bereits 50 Prozent. All diese Menschen seien durchaus auch besorgt wegen des Ausbaus des Militärzen­trums, sagt Schild, der Wiesbaden zur Zielscheib­e machen könnte. »Die Menschen haben Angst, ausradiert zu werden«, sagt Schild. »Wie Bleistift von einem Radiergumm­i.«

Während der Corona-Pandemie hörte der deutsch-amerikanis­che Ausschuss im Stadtparla­ment auf zu tagen. Man munkelt, dass es dauerhaft so bleiben wird.

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Ankunft von Soldaten in Wiesbaden: Das Hauptquart­ier des US-Heeres in Europa und Afrika in der hessischen Landeshaup­tstadt spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Unterstütz­ung für die Ukraine.

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