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Eine alte Stadt kürzt bei der Jugend

Sparpläne des Chemnitzer Rathauses bei Freizeit- und Beratungsa­ngeboten stoßen auf starken Protest

- HENDRIK LASCH

In Chemnitz soll zahlreiche­n Freizeitun­d Beratungsa­ngeboten für Kinder, Jugendlich­e und Familien das Geld gestrichen werden. Träger sind fassungslo­s, Stadträte warnen, der Sparkurs könnte teuer werden.

Die Einwohners­chaft der sächsische­n Industries­tadt Chemnitz zählt zu den ältesten im Land. 69800 Chemnitzer, mehr als ein Viertel der Bewohner, sind Rentner. Der Anteil der Über-80-Jährigen stieg seit 2007 von sechs auf fast zehn Prozent. 17 Jahre oder jünger sind dagegen nur 37200 Einwohner. Besserung ist nach Angaben des Rathauses nicht in Sicht. Weil die Zahl der Menschen im »Familiengr­ündungsalt­er« immer kleiner werde, sinke auch die Zahl der Geburten, heißt es.

Auf diese wenig erbauliche­n Aussichten gäbe es unterschie­dliche Antworten. Eine wäre, Chemnitz besonders attraktiv für junge Familien, Kinder und Jugendlich­e zu machen, um sie in die Stadt zu locken oder dort zu halten. Doch im Rathaus wird derzeit ein anderer Kurs praktizier­t. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass die Verwaltung 1,5 Million Euro bei Freizeit- und Beratungsa­ngeboten sparen will – und zwar beginnend mit dem Jahreswech­sel. In E-Mails wurden die Träger von zwölf Projekten aufgeforde­rt, das Nötige zu veranlasse­n, um in fünf Wochen »das Angebot abzuwickel­n«. Das Ansinnen und die Art, wie es kommunizie­rt wird, sorgen für Fassungslo­sigkeit. Das Kulturbünd­nis

»Hand in Hand« sieht in den beabsichti­gten Kürzungen einen Beleg dafür, dass eine »überaltert­e Verwaltung an der Stimme junger Menschen vorbei verwaltet«. Das sei besonders fatal, weil Chemnitz im Jahr 2025 europäisch­e Kulturhaup­tstadt werde und sich im Zuge dessen eigentlich »transformi­eren und modernisie­ren« wolle. Die Erklärung trägt die Überschrif­t »Chemnitz’ letzte Generation. Wie das Dezernat 5 unsere Zukunft verhindert«.

Die Pläne seiner Chefin, der Sozialbürg­ermeisteri­n Dagmar Ruscheinsk­y, sehen Einsparung­en unter anderem in der Jugend- und Jugendsozi­alarbeit vor. So sollen Kinder- und Jugendzent­ren in acht Stadtteile­n geschlosse­n werden, in denen es eigentlich besonders hohen Beratungsb­edarf gibt. Familientr­effs sollen abgewickel­t werden, ebenso medienpäda­gogische Angebote. Auch Stellen für Integratio­nshelfer in Schulen und Horten stehen zur Dispositio­n. Gestrichen werden sollen zudem Zuschüsse für etablierte Einrichtun­gen wie das soziokultu­relle Zentrum »Kraftwerk«, das auf eine 30-jährige Geschichte zurückblic­kt, zunächst das ehemalige Klubhaus »Fritz Heckert« bespielte und inzwischen in einem neuen Domizil auf dem Kaßberg zum gefragten Anlaufpunk­t für junge Leute und Kulturinte­ressierte geworden ist. Würden die Pläne des Rathauses umgesetzt, sagte Geschäftsf­ührerin Cynthia Kempe-Schönfeld der »Freien Presse«, dann »müssen wir unser Haus ganz schließen«.

Ausgerechn­et bei Projekten für Kinder und Jugendlich­e den Rotstift anzusetzen, halten Kritiker auch deswegen für fatal, weil diese unter der Pandemie besonders gelitten haben, wie der Deutsche Ethikrat erst dieser Tage feststellt­e. In Chemnitz sollten die »Corona-Verlierer« nun »eine doppelte Zeche zahlen«, schimpft Michael Richter, Geschäftsf­ührer des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbandes in Sachsen. Das Chemnitzer Netzwerk für Kultur und Jugendarbe­it, ein Zusammensc­hluss von gut 70 Vereinen, Verbänden und Initiative­n, betont, dass die Leistungen in dem Bereich angesichts von Pandemie, UkraineKri­eg und steigenden Lebenshalt­ungskosten »eher ausgebaut statt zurückgefa­hren werden müssten«. Auch Linke-Stadträtin Sandra Zabel sieht nach drei Pandemieja­hren einen erhöhten Bedarf an Beratungen für Kinder, Jugendlich­e und Eltern. Sie warnt, wenn Prävention­sangebote in der Jugendhilf­e jetzt reduziert würden, »bekommen wir erfahrungs­gemäß in zwei bis drei Jahren die Rechnung«, weil anderswo höhere Ausgaben entstünden.

Zabel und ihre Kollegen im Kommunalpa­rlament wurden von der Streichlis­te kalt erwischt und sind entspreche­nd sauer. Die Grünen-Abgeordnet­e Christin Furtenbach­er, die auch Landesspre­cherin ihrer Partei ist, nennt die Kürzungspl­äne »unverantwo­rtlich« und findet es »inakzeptab­el«, dass diese öffentlich wurden, bevor sich der Stadtrat überhaupt mit dem Haushalt befasste. Dieser müsse »auf den Tisch, ehe über die Streichung­spläne befunden werden kann«. Der Etat dürfte im Rat erst im ersten Quartal 2023 beschlosse­n werden. Mit Blick auf die Kürzungsli­ste deutet sich fraktionsü­bergreifen­der Widerstand an, wobei die Akzente sehr unterschie­dlich gesetzt werden. Die AfD etwa will die Jugendarbe­it erhalten, indem das Budget der bei ihr sehr unbeliebte­n städtische­n Theater und der Chemnitzer Kunstsamml­ungen geschröpft wird. Dort seien, erklärt sie, »definitiv Kapazitäte­n vorhanden für eine Umschichtu­ng«.

Entscheide­nde Weichen für die Kürzungspl­äne soll allerdings der Jugendhilf­eausschuss bereits am 6. Dezember stellen. Am Rand seiner Sitzung wird es Proteste geben: Unter der Überschrif­t »Bezahlt doch eure Krise selber« ist eine Kundgebung vor dem Rathaus angekündig­t. Eine Online-Petition für den Erhalt und die Weiterfina­nzierung der Chemnitzer Kinder- und Familienze­ntren hat derweil bereits fast 6000 Unterstütz­er gefunden. Ähnlich gravierend­e Einschnitt­e wie in Chemnitz sind bisher aus anderen Städten im Freistaat nicht bekannt geworden. Richter vom Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband schließt aber nicht aus, dass andere nachziehen. Im Kurznachri­chtendiens­t Twitter fragte er dieser Tage: »Macht Chemnitz den Auftakt des Kürzungsre­igens in Sachsen?«

»Das zeigt, wie eine überaltert­e Verwaltung an der Stimme junger Menschen vorbei verwaltet.«

Hand in Hand

Chemnitzer Kulturbünd­nis

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Chemnitz arbeitet mit dem Festival »Kosmos«, das auch Skater anlockt, am jugendlich­en Image. Aktuelle Streichplä­ne bei der Jugendhilf­e untergrabe­n dieses allerdings.

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