nd.DerTag

Auf Rudows rauen Straßen

Berlins Regierende Bürgermeis­terin eröffnet den Straßenwah­lkampf im eigenen Wahlkreis

- PATRICK VOLKNANT

Die Wahlwieder­holung ist beschlosse­ne Sache und zwingt die Berliner SPD-Fraktion, in die Offensive zu gehen. Nun ist Spitzenkan­didatin Franziska Giffey in den Neuköllner Ortsteil Rudow gefahren, um Überzeugun­gsarbeit zu leisten. »Scherben bringen Glück«, dürfte die SPDFraktio­n im Berliner Abgeordnet­enhaus nach dem Auftakt zum Berliner Straßenwah­lkampf hoffen: Noch bevor Franziska Giffey (SPD) am Montagaben­d im Neuköllner Ortsteil Rudow eintrifft, in dem sie bei der Abgeordnet­enhauswahl 2021 mit 40,8 Prozent das Direktmand­at geholt hat, zerschellt neben dem Infostand ihrer Partei eine rote Tasse am Boden. Schnell werden die Scherben in der Kälte zusammenge­kehrt und im Mülleimer am Straßenran­d entsorgt.

Die Wahlkämpfe­r*innen der SPD haben vor dem Eingang eines Supermarkt­es Stellung bezogen. Den Vorbeilauf­enden bieten sie Broschüren an, auf dem Stand liegen Kugelschre­iber, Schlüssela­nhänger und, wie man gegenüber Interessie­rten betont, vegane Gummibärch­en. Doch für die Infoblätte­r können sich nur wenige begeistern, immer wieder fluchen Passant*innen mit Einkaufswa­gen über die Menschentr­aube, an der sie sich vorbeidrän­gen müssen. Einer von ihnen läuft erst vorüber, kommt dann aber zurück, um einen »neuen Willi Brandt« zu fordern. »Aber wir haben doch den Olaf«, entgegnet ein Wahlkämpfe­r und erntet dafür ein paar Lacher.

»Sie versucht einfach nur, ihre eigene Haut zu retten.«

Bürger in Rudow

Mit rund 20 Minuten Verspätung und im knallroten Mantel taucht schließlic­h die Regierende Bürgermeis­terin auf. »Ein bisschen was von der SPD?«, fragt der Wahlkämpfe­r mit den Infoblätte­rn und hält Giffey eine Broschüre entgegen. »Ja, nehme ich gerne!«, entgegnet diese mit einem Lächeln, bevor sie sich den Fragen der Leute stellt. Im Hintergrun­d der Veranstalt­ung hat inzwischen ein schwarzer Transporte­r geparkt, im Schlepptau ein großes Transparen­t der FDP-Fraktion. »Neuwahlen: Noch nie hat politische­s Versagen so viele Chancen eröffnet«, ist darauf zu lesen. Einer der SPDler vor Ort attestiert der Konkurrenz Verzweiflu­ng.

Konfrontie­rt wird Giffey unter anderem mit Vorwürfen im Zusammenha­ng mit ihrer Doktorarbe­it, die sie abstreitet: »Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich diese Arbeit nach bestem Gewissen geschriebe­n habe. Dafür stehe ich bis heute.« Ihr Gegenüber bohrt weiter, zeigt sich unzufriede­n mit der Arbeit des Senats. Die SPD-Politikeri­n verteidigt sich: »Mit der allgemeine­n Aussage, dass alles schiefläuf­t, fällt es mir schwer umzugehen.«

Thema Nummer eins am Montagaben­d ist jedoch der Volksentsc­heid zur Klimaneutr­alität Berlins bis 2030. »Ich bin extra hergekomme­n, um von Ihnen zu hören, wie es möglich ist, die Wahl und den Volksentsc­heid zusam

menzulegen«, sagt ein junger Mann zu Giffey, nachdem er ein Foto mit ihr gemeinsam hat machen lassen. Für einen Erfolg des Volksentsc­heids müssen mindestens 25 Prozent der Berliner Wahlberech­tigten dem Begehren zustimmen. Unterstütz­er*innen sehen das Ziel bei getrennten Terminen in Gefahr.

Auch der Mann scheint besorgt: »Wenn es irgendwie möglich ist, dann muss das gemacht werden.« Die SPD-Politikeri­n pflichtet ihm bei: »Na sicher! Aber natürlich, das ist ja logisch.« Allerdings bleibe nur sehr wenig Zeit, die nötigen Vorkehrung­en bis zur kommenden Wahl zu treffen. Der reibungslo­se Ablauf der Wiederholu­ngswahl, erklärt Giffey, dürfe durch den Arbeitsauf­wand für den Volksentsc­heid nicht gefährdet werden. »Wir dürfen nicht riskieren, dass es noch mal schiefgeht.«

Ihr Gesprächpa­rtner zeigt sich letztlich verständni­svoll – anders als zwei Passant*innen, mit denen Giffey die meiste Zeit vor dem Eingang zum Supermarkt zubringt. Der Frau und dem Mann geht es nicht nur um den Volksentsc­heid,

sondern um Berliner Klimapolit­ik im Allgemeine­n. Diskutiert wird auch um die Umsetzung von Tempo 30 auf den Hauptstaße­n der Stadt. »Barcelona macht’s, Helsinki macht’s, Paris macht’s, aber Berlin macht es nicht«, sagt der Mann und verweist auf die drastisch gesunkene Zahl von Verkehrsto­ten in der finnischen Hauptstadt. »Aber da kann sie sich nicht über den Bund hinwegsetz­en«, wirft seine Mitstreite­rin mit Blick auf Giffey ein. Er aber will das nicht gelten lassen: »Ich habe dazu aber auch keine Bundestags­initiative gesehen.« Berlin könnte in dieser Sache vorangehen, tue es aber nicht.

Die SPD-Politikeri­n beteuert hingegen, dass der Bund vielen Projekten im Weg stehe, zählt das auf, was sie als Bürgermeis­terin bereits durchgebra­cht hat, allem voran das 29-Euro-Ticket. »Wir sind das einzige Bundesland mit so einem Ticket«, sagt Giffey. Mit der neuen, bundesweit­en Lösung rechnet Berlins Bürgermeis­terin frühestens im April 2023. »Bis dahin kommt gar nichts vom Bund, gar nichts.« Sie selbst wolle sich dafür einsetzen,

dass das 29-Euro-Ticket dementspre­chend bis März verlängert werde.

Mit den Antworten der Bürgermeis­terin ist der Mann trotzdem nicht zufrieden. »Sie versucht einfach nur, ihre eigene Haut zu retten«, sagt er nach dem Gespräch zu »nd«. Sowohl er als auch seine Begleiteri­n wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, geben aber an, sich bei der Initiative »Berlin 2030 klimaneutr­al« zu engagieren. Das Land, finden beide, hätte sich auf die Möglichkei­t vorbereite­n müssen, das es gelingen würde, genügend Unterschri­ften für den Volksentsc­heid zu sammeln.

»Ich habe auch schon Druckauftr­äge vergeben, zwar nicht in Millionenh­öhe, aber jetzt auch nicht so viel kleiner«, sagt die Frau. Mit Druckereie­n könne man vieles im Vorfeld des Volksentsc­heids abstimmen und Lieferwege klären. Der Mann ergänzt: »Wenn man etwas unterstell­en möchte, könnte man sagen, dass sie es mit Absicht herausgezö­gert haben. Wenn man gutwillig ist, kann man sagen: Berlin hat es mal wieder verpennt.«

 ?? ?? Erhitzte Gemüter trotz Kälte: SPD-Politikeri­n Giffey stellt sich in Neukölln-Rudow den Fragen der Passant*innen.
Erhitzte Gemüter trotz Kälte: SPD-Politikeri­n Giffey stellt sich in Neukölln-Rudow den Fragen der Passant*innen.

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