nd.DerTag

Ein perfider Plan

Notizen zu einer unabgeschl­ossenen Debatte über den Holodomor in der Ukraine

- WLADISLAW HEDELER

In der Ukraine gibt es über 350 Gedenksort­e, die an den Holodomor 1932/33 erinnern. »Holod« bedeutet Hunger und »mor« Massenster­ben. Gemeint ist eine unvorstell­bare Hungerkata­strophe ausgerechn­et in der »Kornkammer der UdSSR«, die mindestens vier Millionen Menschen das Leben kostete. Zweifellos wurde sie durch die von der sowjetisch­en Partei- und Staatsführ­ung angeordnet­e Zwangskoll­ektivierun­g der Landwirtsc­haft begünstigt. Ursächlich jedoch war eine perfide Intention, eine bis ins Detail geplante und mit Hilfe des sowjetisch­en Geheimdien­stes NKWD umgesetzte Terrormaßn­ahme, die wiederum in die »nationalen Operatione­n« in den Jahren des »Großen Terrors« mündete. Dem Massenster­ben auf dem Lande folgte die Deportatio­n Hunderttau­sender Ukrainer in Arbeitslag­er.

Am 28. November 2006 hatte das ukrainisch­e Parlament ein Gesetz »über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932 bis 1933« beschlosse­n, in dem dieser als Genozid am ukrainisch­en Volk gebrandmar­kt und dessen Leugnung unter Strafe gestellt wird. Ein Jahr später, zum 75. Jahrestag des grausigen Geschehens, verabschie­dete die Unesco eine Resolution zur Erinnerung an die Opfer der großen Hungersnot in der Ukraine. Unter Historiker­n ist die Einordnung des Holodomor jedoch nach wie vor umstritten. Während die einen den ukrainisch­en Kontext hervorhebe­n, verweisen andere, unter ihnen Alexander Vatlin (Moskau) und Robert Kindler (Berlin) auf die übergreife­nde Dimension des Terrors in der Sowjetunio­n, der sich unter anderem auch gegen Krimtatare­n und Kasachen richtete. In Kasachstan seien die Zustände noch viel schlimmer gewesen, betont Kindler zu Recht. Die erneute Schließung der Archive in der Russischen Föderation und die dortige Stalin-Renaissanc­e behindern leider die Weiterführ­ung quellenges­tützter Forschung zum Leid dieser und anderer Sowjetvölk­er.

Unter Historiker­n ist die Einordnung des Holodomor in der Ukraine nach wie vor umstritten.

Im Unterschie­d zum Holodomor ist die Terrorpoli­tik der Jahre des »Großen Terrors«, zu der auch die »deutsche Operation« 1937/38 gehörte, die sich gegen Wolgadeuts­che und Emigranten aus Nazideutsc­hland richtete, gründlich untersucht worden. In der Russischen Föderation sind zahlreiche Publikatio­nen darüber erschienen. Mitarbeite­r der Menschenre­chtsorgani­sation Memorial konnten anhand von Dokumenten aus damals noch geöffneten russischen Archiven das Ziel der Sowjetführ­ung unter Stalin nachweisen, durch Hunger, Zwangsarbe­it und Terror den Widerstand in der Bevölkerun­g und in Kreisen der nationalen Eliten in den Sowjetrepu­bliken zu brechen.

Nach dem »Großen Umschwung« 1929, der das Ende der von W. I. Lenin begründete­n Neuen Ökonomisch­en Politik eingeleite­t hatte, begann die Ära der Arbeitslag­er, die erst Anfang der 1960er Jahre endete. In den Lagern sollten die zu »Feinden des Volkes« erklärten Sowjetbürg­er fortan durch kräftezehr­ende Zwangsarbe­it, menschenun­würdige Lebensbedi­ngungen und menschenve­rachtende Behandlung eliminiert werden. Der Gulag-Häftling Warlam Schalamow

beschrieb in seinen »Erzählunge­n aus Kolyma« das Grauen in den Lagern jenseits des Polarkreis­es, die er als »Auschwitz ohne Öfen« bezeichnet­e.

Zu den Leerstelle­n in der Forschung gehört jedoch ein eindeutige­r Nachweis der persönlich­en Verantwort­ung Stalins. Der Diktator erscheint in den Dokumenten vielmehr im Zusammenha­ng mit der Beendigung von Terrormaßn­ahmen. Er ordnete immer dann eine Atempause an, wenn das System ob des Umfangs der Repressali­en (ein hier eigentlich verniedlic­hender Begriff) zu kollabiere­n drohte.

Was den »Startschus­s« für den Beginn der Kampagnen gegen bestimmte Nationen oder Ethnien angeht, liegen der Forschung weitaus weniger Akten vor. Als ein solcher werden vor allem Briefe Stalins ab Juli 1932 an seine engsten Vertrauten, Außenminis­ter Wjatschesl­aw Molotow und Volkskommi­ssar Lasar Kaganowits­ch gewertet, sowie mit ihnen im Zusammenha­ng stehende Beschlüsse

des Politbüros des ZK der KPdSU(B). Stalin sah die Ursache für die Nichterfül­lung der Pläne der Getreidebe­schaffungs­kampagne in den Aktivitäte­n der ukrainisch­en Nationalis­ten, die angeblich eine Abtrennung der Ukraine von der UdSSR und einen Anschluss an Polen planten. Um diese Gefahr zu bannen, sollten Molotow und Kaganowits­ch in die Ukraine reisen und diese zu einer soliden Bastion, einer mustergült­igen Unionsrepu­blik ausbauen. Eine in die Zentren der Ukraine entsandte Kommission des Politbüros setzte die alten Kader ab und neue ein. Ein für allemal sollte der »Kulakenide­ologie«, wie es hieß, ein Ende bereitet werden. Die Klasse der Kulaken (Großbauern) sollte restlos beseitigt werden.

Zu den Historiker­n, die mit dem Anspruch angetreten waren, die Abgründe dieser eliminator­ischen Politik auszuloten, gehörten der Engländer Robert Conquest (»Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929 – 1933«), der US-Amerikaner

Norman M. Naimark (»Stalin und der Genozid«) sowie die Ukrainer Juri Schapowal (»Die Kommandeur­e des Holodmor«), Wolodymyr Prystaiko (»Die Abrechnung mit den ukrainisch­en Intellektu­ellen«) und Ruslan Pirig, Herausgebe­r einer monumental­en, 2007 vorgelegte­n Dokumenten­edition über den Holodomor. Naimark konstatier­te in seinem drei Jahre später veröffentl­ichten Buch, dass ein Ziel des Terrors in der Ukraine darin bestanden habe, »die Nation ›als solche‹ zu zerstören, indem man einen Teil der Nation vernichtet«. Stalin und seinesglei­chen seien überzeugt gewesen, dass die ukrainisch­en Bauern »Volksfeind­e« seien, die den Tod verdient hätten. »Das genügte der sowjetisch­en Führung, und das sollte für die Schlussfol­gerung ausreichen, dass der ukrainisch­e Hungertod ein Genozid war.«

Am heutigen Mittwoch will der Bundestag entscheide­n, ob die Bundesrepu­blik den Holodomor in der Ukraine als Völkermord anerkennt.

 ?? ?? Denkmal vor dem Holodomor-Museum in Kiew, an dem am Wochenende des 90. Jahrestage­s des Genozids gedacht wurde.
Denkmal vor dem Holodomor-Museum in Kiew, an dem am Wochenende des 90. Jahrestage­s des Genozids gedacht wurde.

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