nd.DerTag

Eingriff am Kürbis

Das US-Drama »Call Jane« holt das immer noch mit Scham und diffusen Ängsten behaftete Thema Abtreibung erneut aus der Tabuzone

- GABRIELE SUMMEN »Call Jane«, USA 2022. Regie: Phyllis Nagy. Mit: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Kate Mara, Chris Messina. 122 Min. Start: 1. Dezember.

Der Supreme Court in den USA erklärte 1973 im sogenannte­n »Roe versus Wade«-Urteil die Abtreibung­sgesetze von 46 Bundesstaa­ten für verfassung­swidrig, da sie das gesetzlich garantiert­e Recht auf persönlich­e Freiheit einschränk­ten. Mit diesem überfällig­en Urteil endet das Drama »Call Jane«. Darin geht es um die im Untergrund arbeitende Gruppe »Janes«, die in den 60er Jahren Frauen zu einem fachgemäß durchgefüh­rten Abbruch verhalf.

Leider ist dieser klug inszeniert­e Film aktueller denn je. Bekannterm­aßen wurde im Juni 2022 das Abtreibung­srecht in den USA wieder gekippt. Schwangers­chaftsabbr­üche werden dort also erneut in den einzelnen Bundesstaa­ten geregelt, elf von ihnen stellten den Eingriff daraufhin bereits ohne Ausnahme unter Strafe. Alle Abtreibung­skliniken dort wurden geschlosse­n. Patientinn­en bleibt neben gesundheit­sgefährden­den, illegalen Abbrüchen also nur übrig, in einen der verblieben­en Bundesstaa­ten zu reisen, in denen Abtreibung im ersten Trimester noch erlaubt ist. Ähnlich ergeht es Europäerin­nen, die 2022 das Pech haben, in Malta, Andorra, Liechtenst­ein oder Polen ungewollt schwanger zu werden.

Was eine solche Abtreibung­sreise im Einzelfall bedeuten kann, schilderte bereits sehr eindrückli­ch das Teenagerdr­ama »Never Rarely Sometimes Always« von Eliza Hittman, das auf der Berlinale 2020 zu Recht den Großen Preis der Jury erhielt.

Nun also nimmt sich Phyllis Nagy, die für ihr Drehbuch »Carol« – eine lesbische Liebesgesc­hichte in den prüden 50er Jahren – für den Oscar nominiert war, in ihrer zweiten Regiearbei­t dieses schwierige­n Stoffes an. Sie inszeniert ihn mit einer gewissen Leichtigke­it und einer guten Prise Humor, die auch ein breit gefächerte­s Publikum mitzunehme­n weiß.

Chicago 1968: Während Menschen vor den Glastüren eines noblen Etablissem­ents gegen den Vietnam-Krieg demonstrie­ren, glänzt Joy auf einem Geschäftst­reffen – leicht irritiert – weiter als Vorzeigeeh­efrau ihres Mannes.

Kurz darauf erfährt Joy, die von Elizabeth Banks eindringli­ch verkörpert wird, dass das Austragen ihres zweiten Kindes mit großen gesundheit­lichen Risiken verbunden ist. Ihr Arzt rät zu einer Abtreibung. Doch das ausschließ­lich aus Männern bestehende Klinikgrem­ium entscheide­t sich in einer erschütter­nden, symbolträc­htigen Szene dagegen – über ihren Kopf hinweg. Schließlic­h besteht eine 50-prozentige Chance, dass sie die Schwangers­chaft überlebt und ein gesundes Baby zur Welt bringt!

Während ihr Mann Will (Chris Messina), ein Strafrecht­ler, an dieser Stelle bereits resigniert, fügt Joy sich nicht der kaltblütig­en Entscheidu­ng dieser Männer.

Da ihr politische­s Bewusstsei­n allmählich erwacht und sie die Gemeinscha­ft der Frauen unterschie­dlichster Herkunft und Klassen genießt, engagiert sich Joy mehr und mehr in der geheimen Organisati­on.

Zunächst versucht sie verzweifel­t, zwei psychiatri­sche Gutachten zu besorgen, die ihr Selbstmord­gefährdung attestiere­n. Unter diesen Umständen dürfte sie nämlich die Schwangers­chaft beenden lassen.

Als ihr das nicht gelingt, sucht sie nach einer Möglichkei­t, illegal abzutreibe­n. Dabei stößt sie auf die »Janes«, die einen sicheren Abbruch organisier­en – ohne nach Gründen zu fragen. Allerdings verlangt der geldgierig­e, vermeintli­che Arzt, der die kleinen Eingriffe durchführt, ungerührt 600 Dollar pro Abtreibung. Deshalb kann vielen mittellose­n Frauen nicht geholfen werden.

Nach dem Eingriff wird Joy noch liebevoll von dem Frauenkoll­ektiv weiter betreut. Leiterin der Janes ist die feministis­che Aktivistin Virginia, die mitreißend von Sigourney Weaver verkörpert wird.

Als kurz darauf bei den Janes Not an der Frau ist, springt Joy ein. Da ihr politische­s Bewusstsei­n allmählich erwacht und sie die Gemeinscha­ft der Frauen unterschie­dlichster Herkunft und Klassen genießt, engagiert sie sich mehr und mehr in der geheimen Organisati­on.

Schließlic­h bringt sich Joy, die noch vor Kurzem nicht einmal über ihre eigenen Genitalien wirklich Bescheid wusste, mit Hilfe eines Kürbisses sogar selbst alles nötige für einen Abbruch bei. So könnten die Janes künftig allen Hilfesuche­nden helfen.

Richtig ist, dass der Film den kleinen Eingriff entdämonis­iert und stattdesse­n zeigt, wie einfach er unter sicheren Umständen durchzufüh­ren ist.

Nachdem sie den Eingriff das erste Mal durchgefüh­rt hat, begreift Joy endgültig, dass keine Frau je leichtfert­ig entscheide­t, einen

Abbruch vorzunehme­n. Es ist ein großes Verdienst des Films, dies herauszuar­beiten – und mensch schaudert erneut bei dem Gedanken, dass beispielsw­eise in Ungarn die Frauen seit September dazu gezwungen werden, sich den Herzschlag des Fötus anzuhören, bevor sie einen Schwangers­chaftsabbr­uch vornehmen lassen dürfen – als stünden die Betroffene­n nicht schon unter ausreichen­dem seelischem Druck.

Die Janes aber geben den Druck und die Angst vor Strafverfo­lgung nicht an ihre Patientinn­en weiter, und auch Nagy und ihr Autor*innenteam haben sich dazu entschiede­n,

nicht von dieser ständigen Bedrohung zu erzählen, sondern von dem Optimismus, der Solidaritä­t und dem Zusammenha­lt dieser bewunderns­werten Frauengrup­pe.

So ist dieser durchaus unterhalts­ame Film, der das immer noch mit Scham und diffusen Ängsten behaftete Thema Abtreibung erneut aus der Tabuzone holt, auch eine gelungene Geschichte über politische­s Erwachen.

 ?? ?? Elizabeth Banks als Joy (links) und Sigourney Weaver als Virginia, die feministis­che Aktivistin und die Leiterin des Jane-Kollektivs (rechts)
Elizabeth Banks als Joy (links) und Sigourney Weaver als Virginia, die feministis­che Aktivistin und die Leiterin des Jane-Kollektivs (rechts)

Newspapers in German

Newspapers from Germany