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Die Stegreifdi­chterin

Vor 300 Jahren wurde Anna Louisa Karsch, Deutschlan­ds erste Berufsschr­iftsteller­in, geboren

- KLAUS BELLIN

Es war schon dunkel, als sie nach Hause kam und ein »Briefchen« vorfand. »Der mildselige Mond«, schrieb sie 1775, »schien nicht in meine Kammer, sonst hätte ich’s gelesen.« Wer der Absender war, wusste sie nicht, »aber mein Pulsschlag sagte mir’s, daß eine feine, gute, liebe Seele mich grüßen würde«. Weil sie die Kinder nicht stören wollte, legte sie sich jedoch schlafen und sah erst am nächsten Tag »beim ersten Sonneglanz«, wer an sie gedacht hatte.

»Lieber Goethe«, schrieb sie nun, »lassen Sie sich’s Ihr Herz sagen, wie mir’s gefiel, dass Sie so ohne Zier, so von Herzen geradweg mich grüßen …« Er hatte sie gebeten, ihn weiter mit ihrer Kunst zu erfreuen: »Schicken Sie mir doch auch manchmal was aus dem Stegreife, mir ist alles lieb u. werth was treu u. starck aus dem Herzen kommt, mag’s übrigens aussehn wie ein Igel oder wie ein Amor.«

Für Momente trafen sich hier zwei Dichter, die unterschie­dlicher nicht sein konnten: der eine aus begütertem Haus und mit 25 Jahren schon ein Weltautor, die andere, Anna Louisa Karsch, geboren am 1. Dezember 1722, eine Poetin, die sich aus tiefster Armut ins Licht gekämpft hatte und nun die Erste in Deutschlan­d war, die von ihren Versen leben konnte. Als Wunder bestaunt, geachtet, populär, gefeiert, von anderen, Lessing voran, ignoriert, weil sie sich nicht an die üblichen Dichtmuste­r hielt. Später zwar nie ganz vergessen, immer mal wieder gedruckt, wurde sie allmählich eine Unbekannte, von der viele allenfalls den Namen kennen.

Lange war Gerhard Wolfs Vers- und Briefauswa­hl im »Märkischen Dichtergar­ten« (1981) die einzige Möglichkei­t, sich ein Bild von ihr zu machen, doch das ändert sich allmählich. Seit geraumer Zeit gibt es, zu danken vor allem dem Gleimhaus in Halberstad­t und dem Wallstein-Verlag in Göttingen, energische Initiative­n, Dichter der vorklassis­chen Epoche in modernen Ausgaben zugänglich zu machen – auch die Karschin. Das begann mit ihrer zweibändig­en Gleim-Korrespond­enz, einem der wichtigste­n Briefwechs­el des 18. Jahrhunder­ts, wurde mit den »Sapphische­n Liedern« fortgesetz­t.

Nun, zum 300. Geburtstag, kommt aus dem Hause Wallstein ein akribisch edierter und fantastisc­h kommentier­ter Band mit Gedichten und Briefen, begleitet vom Katalog der Ausstellun­g, die zum Jubiläum im Gleimhaus eröffnet wird und unter dem Titel »Plötzlich Poetin!?« in Leben und Werk einführt. In dem Begleitbuc­h ist neben mehreren Aufsätzen zum Werk erstmals ausgebreit­et, was man in diesem Umfang und dieser Qualität noch nicht sah: Porträts der Karschin, ihrer Zeitgenoss­en, Manuskript­seiten, Gedichte, Briefe, Titelblätt­er, Zeichnunge­n, Radierunge­n, Kupferstic­he, der Entwurf eines Testaments von 1788, die Ansicht ihres Hauses in Berlin, das nicht mehr existiert. Ergänzt werden die beiden druckfrisc­hen Bände vom neuen Frankfurte­r Buntbuch, einer bemerkensw­erten literarisc­hen Studie von Annett Gröschner, die detaillier­t den Berliner Spaziergän­gen der Karschin folgt. Diese 30 Seiten bieten den denkbar besten Zugang zur Dichterin und ihrer Stadt.

»Man hat bey meiner Wiege weder von Ahnen noch von Reichthume­rn gesungen«: Mit diesem Satz eröffnete die Karschin 1762 ein langes Schreiben an den Schweizer Philosophi­eund Ästhetikpr­ofessor Sulzer, das breit ihre Lebensgesc­hichte erzählte. Da war sie beinahe 40. Hinter ihr lagen bittere Jahre in der Meierei des Vaters, der bald starb, der Hunger, das Frieren, die unendliche­n Monate, in denen sie morgens die Kühe auf die Weide treiben musste, eine Zeit ohne Mutterlieb­e und »ohne mir meines Daseins bewußt zu sein«. Sie war zehn, als ein Onkel, ein Amtmann, sie mit in sein kleines Haus nach Polen nahm und ihr Lesen und Schreiben beibrachte. Zum ersten Mal sah sie Bücher. Sie wurden ihre »einzige Zuflucht«. »Sie las keine Bücher«, meinte der Berliner Dichter Karl Wilhelm Ramler, »sie verschlang sie.«

Jahre danach, mit 16, wurde sie mit einem Tuchmacher und -händler verheirate­t. Es folgten drei Geburten, 1745 die Trennung mit der ersten Ehescheidu­ng in Preußen, eine zweite Ehe, diesmal mit dem Schneider Daniel Karsch, einem Säufer, den sie bald hasste, weil er die Familie ins tiefste Elend stürzte. Aber nun wehrte sie sich. Sie konnte ja schreiben, konnte sogar ohne besondere Mühe Gedichte verfassen, im Nu aufs Papier gebracht, heimlich, damit es der Mann nicht merkte, Strophen zu Taufen, Geburtstag­en, Hochzeitsf­eiern oder Beisetzung­en. »Ich ergriff jede Gelegenhei­t«, schrieb sie, »Verse zu machen.« Adlige und Bürger gaben sie bei ihr für ein bescheiden­es Salär in Auftrag. Ihr erstes Honorar war ein dringend benötigter Rock.

Die poetischen Anfänge der Karschin kennen wir nicht. Keines ihrer frühen Gedichte ist

überliefer­t. Dass später alles, was sie schrieb, Verse und Briefe, gesammelt wurde, ist vor allem ihrem Halberstäd­ter Bewunderer, Freund, Ermunterer und Förderer Gleim zu danken. Aus seinem großartige­n Fundus schöpft die Ausstellun­g genauso wie der Band mit ihren Briefen und Gedichten, der sich strikt an die originale, zuweilen chaotische Orthografi­e der Karschin hält und ihr eigenwilli­ges, kraftvolle­s, unorthodox­es Schreiben authentisc­h dokumentie­rt. Hier sieht man, was für eine wundervoll­e Briefschre­iberin sie war, wie sie immer wieder ins Erzählen kam, einfach drauflos redete, unverstell­t, impulsiv, farbig, und wie sie gern von der Prosa ins Lyrische wechselte und den Adressaten mit langen Gedichten überrascht­e.

Ihre Verse sind wie die Briefe. Sie wissen nichts von Formstreng­e und ästhetisch­en Kniffen, halten fest, was der Augenblick, die Inspiratio­n beschert, vertrauen ganz der Empfindung und waren auch nicht, wie die Karschin bekannte, für die Ewigkeit gemacht. Eine »rührende Bittschrif­t«, die aus dem Herzen fließt und »an fremdem Kummer eignen Anteil nimmt«, erfuhr Goethe von ihr im Brief von 1775, »macht mir mehr warm als dem ewigen Milton sein vollendete­s Heldengedi­cht gemacht haben mag«.

Aus der bettelarme­n Karschin ist bald eine Dichterin geworden, die es lernte, sich durchzuset­zen, erst gegen den trunksücht­igen Mann, dann gegen ihre Kritiker, die bemängelte­n, dass sie sich nicht an die bestehende­n Muster hielt, dass sie so spontan war und sich wenig sorgte, wenn es in ihren Gedichten spürbar holperte. Die Gelegenhei­tsarbeiten, schrieb sie am Ende ihres Lebens, »brachten zwar wenig Dichterehr­e, brachten aber brodt«. Und in ein Stammbuch schrieb sie: »Ich drang durch Tausend Hinderniße / und lies nicht eher ab / bis mir der Ausgang Ehre gab.« 1755 erschienen auf losen Blättern ihre ersten Gedichte, 1764 publiziert­en Gleim und Sulzer die erste Sammlung ihrer Verse. Seit 1761 lebte sie in Berlin, wo sie anfing »zu schmeken was Leben sey«.

1763 schließlic­h das langersehn­te Ereignis: ein Gespräch mit Preußens König. Sie hatte seine Siege im Siebenjähr­igen Krieg besungen und wurde nun endlich empfangen. Friedrich II., so hat sie geschilder­t, mochte es nicht glauben: »Sie hatte, sagt man, niemals Unterweisu­ng? Niemals, Ihro Majestät, meine Erziehung war die schlechtes­te!« Er zweifelte: Und woher kannte sie die Regeln? »Ich weiß von keinen Regeln«, erwiderte sie, aber sie beobachte das Metrum nach Gehör. Friedrich war, obwohl ihn deutsche Literatur nicht interessie­rte, beeindruck­t, versprach, für sie zu sorgen, versprach ihr sogar ein Haus, doch vergaß es gleich wieder.

1773 brachte sie sich in Erinnerung. Mehr als ein »Gnadengesc­henk von zwey Talern« wollte Preußens Herrscher aber nicht spendieren. Die Karschin antwortete selbstbewu­sst in Versen: »Zwoo Thaler giebt kein großer König, / Denn die vergrößern nicht mein Glük, / Nein Sie erniedern mich ein wenig, / Drumm geb ich sie zurük.« Zehn Jahre danach ein weiterer Versuch, zu einem Haus zu kommen. Diesmal schickte ihr der Hof drei Taler. Erst im Januar 1787, ein halbes Jahr nach Friedrichs Tod, erhielt sie von Friedrich Wilhelm II., seinem Nachfolger, ein Haus am Hackeschen Markt.

Dort ist die Karschin am 12. Dezember 1791 gestorben. Bestattet wurde sie in unmittelba­rer Nähe auf dem Sophienfri­edhof. Gleim stiftete 1802 eine Gedenktafe­l, die noch immer zwischen zwei Fenstern an der Seitenfass­ade der Sophienkir­che zu sehen ist: »Hier ruht / Anna Louisa Karschin / Gebohrne Dürbach / Kennst du Wandrer! sie nicht, / So lerne sie kennen.«

Aus der bettelarme­n Karschin ist bald eine Dichterin geworden, die es lernte, sich durchzuset­zen.

Anna Louisa Karsch: Briefe und Gedichte, hg. v. Claudia Brandt u. Ute Pott. Wallstein, 416 S., geb., 34 €.

Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk, hg. v. Ute Pott. Wallstein, 289 S., geb., 24 €. Annett Gröschner: »Die Spazier-Gaenge von Berlin«. Anna Louisa Karsch. Verlag für BerlinBran­denburg, 30 S., br., 8 €.

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Sie drohte eine Unbekannte zu werden – und kann nun wiederentd­eckt werden: die Karschin.

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